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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Mal aber blieb er stumm. Wie leichtsinnig es gewesen war, die sichere Höhle zu verlassen! Wie oft hatten die Eltern sie für ihren Ungehorsam gescholten! Immer wieder hatten sie ihr eingeschärft, wie wichtig es war, dem zu folgen, was die Erwachsenen anordneten. Melisande hatte das häufig nicht eingesehen. Jetzt wusste sie, dass ihre Eltern recht gehabt hatten.
    Sie lauschte. Die Söldner kamen immer näher. Die warme Nacht vermochte nicht, die Kälte zu vertreiben, die ihr in die Glieder fuhr. Der Fluchtweg war versperrt, allein und unbewaffnet war sie leichte Beute für de Bruce’ Männer. Über ihr rief der Uhu, als wolle er Melisande daran erinnern, wie töricht sie war.
    Noch einmal warf sie sich gegen den Fels. Und wieder blieb er genau da, wo er war. Sie dachte an den Hasen. Der andere Zugang. Den musste sie finden. Der war ja als Eingang gedacht, also musste man den Stein auch von außen leicht bewegen können.
    Melisande hatte keine Vorstellung, in welche Richtung sie gehen musste. In der Höhle hatte sie vollkommen die Orientierung verloren. Fieberhaft überlegte sie. Von der Lichtung aus waren sie immer nach Westen gelaufen, der Sonne entgegen, hinein in den Talschluss. Wenn sie den wiederfand, würde sie auch den Eingang finden. Mit Mühe unterdrückte sie den Drang, aufzuspringen und loszurennen. Sie durfte nichts überstürzen, musste ruhig bleiben.
    Flach wie ein Brett legte sie sich auf den Boden, grub die Hände in die schwarze Erde, rieb sich das Gesicht und alle Körperstellen ein, die sie im Mondlicht verraten könnten. Immer deutlicher konnte sie die Stimmen verstehen. Sie schob sich tiefer in das Gebüsch und hielt die Luft an. Was sie hörte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren.
    »Also, wenn wir sie finden, dann will ich sie zuerst haben. De Bruce macht sie ja doch kalt, und wir haben dann das Nachsehen«, sagte der eine Soldat mit tiefer Stimme.
    »Willst du, dass der Graf dein edelstes Teil abschneidet und es dir ins Maul stopft? Er will sie haben, und zwar ohne einen Kratzer. Außerdem gibt es die Belohnung nur, wenn sie unversehrt ist. Hast du nicht gehört, was von Säckingen gesagt hat? Wenn du sie mit deinen dreckigen Fingern anpackst, mache ich dir den Garaus. Dann bleibt dir zumindest die Entmannung erspart. Du einfältiger Esel, du.«
    Der andere brummte nur. Melisande konnte nicht beurteilen, ob das Zustimmung hieß oder nicht. Es spielte auch keine Rolle.
    »Wir finden sie sowieso nicht«, sagte der mit der tiefen Stimme. »Das kannst du vergessen. Von Säckingen rechnet auch nicht damit. In den Wäldern kannst du eine Armee verstecken, du würdest sie nicht bemerken, bis dir ein Spieß im Bauch steckt.« Der Söldner lachte wie eine Ziege.
    »Du bist und bleibst ein Trottel. Natürlich können wir sie finden. Wir müssen nur weitersuchen. Irgendwann muss sie essen und trinken. Auf sich selbst gestellt ist sie in ein paar Tagen tot. Von Säckingen lässt alle Gehöfte in der Gegend durchsuchen. Sie kann sich nicht verstecken. Los jetzt! Beweg deinen stinkenden Kadaver! Die Lichtung ist bewacht, der Talschluss ebenso. Da kommt keine Maus durch. Sie ist so gut wie tot.«
    Melisande hätte sich am liebsten eingegraben und wäre nie wieder ans Tageslicht gekommen. Sie spürte die kühle Erde und merkte, dass sie fror. Die Nacht war lau, aber die Feuchtigkeit, die Angst und die Hoffnungslosigkeit ließen ihre Kräfte schwinden. Und jetzt kam auch noch das Schlimmste von allem. Sie krallte die Hände in die Erde. Aber das half nichts. Das Kribbeln in der Nase wurde stärker. Wenn sie jetzt niesen musste, war alles vorbei. Sie presste die Nasenflügel mit Zeigefinger und Daumen zusammen und hielt die Luft an. Aber der Sturm war nicht mehr aufzuhalten. Der angestaute Juckreiz entlud sich durch ihre Finger hindurch in die stille Nacht.
***
    Raimund Magnus war im Schein des Mondlichtes unbehelligt nach Esslingen gelangt. Keiner Menschenseele war er im Wald begegnet, und er dankte Gott dafür. Auch ohne den verräterischen Umhang wäre er den Schergen von de Bruce ungern in die Arme gelaufen. Die Morgendämmerung stand kurz bevor, der Himmel hatte bereits eine graue Farbe angenommen. Bald würde die Sonne wieder auf die Dächer der Stadt brennen, dass die Menschen stöhnten und über die unerträgliche Hitze klagten. Die ersten Brunnen waren schon versiegt, und es war kein Ende der Hitze abzusehen.
    Vor Raimund lag das Heiligkreuztor im Südosten von Esslingen, durch das jeder

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