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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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fühlte sich nur so an.
    Melisande schöpfte ein wenig Wasser, trank, aber es schmeckte schal und abgestanden. Das Brot roch widerlich, sie verzog das Gesicht und warf es ins Feuer. Vor ihren Füßen lag ein kleiner Stein mit scharfen Kanten. Sie klaubte ihn auf, presste ihre Faust darum und warf ihn mit aller Kraft gegen die Höhlenwand. Raimund war nur ein Henker. Ein dummer Henker, der weder lesen noch schreiben konnte. Warum sollte sie ihm gehorchen? Ihre Eltern waren tot. Es gab niemandem, dem sie folgen musste. Nur einen Moment frische Luft atmen, die Sonne sehen ... So schlau wie de Bruce war sie schon lange, niemand würde sie sehen, und bevor der Henker zurück war, würde sie wieder am Feuer sitzen.
    Sie machte sich auf den Weg, folgte dem Gang, durch den Raimund, der Henker, verschwunden war. Der matte Schimmer des Lagerfeuers leckte hinein, aber schon nach wenigen Metern knickte der Gang nach links ab, und Dunkelheit umfing sie. Langsam ließ sie sich auf die Knie sinken, tastete sich Stück für Stück durch den Staub vorwärts. Schmutzig fühlte sie sich, nicht nur von der Erde und dem Dreck. Sie hatte einen Menschen getötet, sein Blut klebte an ihrem Gewand. Sie hatte einen Henker berührt. Und sie hatte das Versprechen nicht halten können, das sie ihrer sterbenden Mutter gegeben hatte: Gertrud war tot. Alle waren tot.
    Sie musste sich auf den Weg konzentrieren, durfte sich nicht von der aufkeimenden Verzweiflung mitreißen lassen. Mit der rechten Hand stützte sie sich ab, fuhr mit der linken in einem Halbkreis über den Boden, um Unebenheiten oder Hindernisse zu ertasten. Wenn der Weg frei war, zog sie zuerst das eine, dann das andere Knie nach. Abstützen, tasten, zwei Fuß weit vorschieben.
    Melisande zwang sich, ruhig zu atmen. Vor engen Räumen hatte sie keine Angst. Im Gegenteil. Zuhause hatte sie ein Spiel daraus gemacht, sich in möglichst kleinen Truhen zu verstecken oder hinter dem Giebelschrank, den Vater aus dem hohen Norden mitgebracht hatte und hinter den eigentlich keine Maus gepasst hätte. Was für ein wundersames Möbelstück: wie drei Truhen übereinander mit Deckeln, die nach vorne aufgingen. Ein richtiges Dach saß obendrauf. Einmal hatte Melisande den Schrank fast umgeworfen und Mutter so erschreckt, dass diese ihr eine Ohrfeige verpasst hatte, die tagelang auf ihrer Wange geglüht hatte. Was würde sie jetzt für eine Maulschelle ihrer Mutter geben!
    Melisande setzte ihre Hand ab und fuhr wie vom Blitz getroffen zurück. Etwas Feuchtes, Kaltes hatte sie berührt und war ihr durch die Hand geflutscht. Eine Kröte? Ein Lurch? Sie hatte von Kreaturen gehört, die im Dunkeln lebten und mit dem Teufel im Bunde standen. Den Bäckermeister Kuntz hatten sie eines Tages tot aufgefunden, und auf seiner Brust hatte eine fette Kröte gesessen. Der Meister war begraben worden, der bösen Kröte aber hatte man den Prozess gemacht, sie verurteilt und vor der Stadt am Galgen aufgehängt.
    Melisande kroch behutsam vorwärts, die Augen so weit aufgerissen, dass sie anfingen zu brennen. Sie hielt inne und schloss die Lider. Langsam ließ der Schmerz nach. Ab sofort würde sie die Augen einfach geschlossen halten, sie sah sowieso nichts.
    Hand, erstes Knie, zweites Knie. Immer wieder. Dann, nach einer Ewigkeit, stieß sie gegen das Ende des Tunnels. Behutsam tastete sie sich an dem rauen Stein empor. Da war ein Riegel. Genau wie auf der anderen Seite, wo sie hereingekommen waren. Sie schob ihn langsam hoch. Der Stein jedoch war nicht so leicht von der Stelle zu rücken. Keinen Fingerbreit rührte er sich. Der Henker besaß offenbar übernatürliche Kräfte. War es nicht das, was die Leute über ihn erzählten?
    Noch einmal stemmte Melisande sich so fest, wie sie konnte, gegen den Brocken. Einen Daumenbreit gab der steinerne Wächter nach. Melisande presste ihre Hände in den Spalt, durch den Licht in die Höhle strömte. Es war nur ein Schimmer, sie musste nicht einmal die Augen zusammenkneifen, um sich an die Helligkeit zu gewöhnen. Und die Luft, die ihr Gesicht streifte, war warm und süß. Noch ein Stück und noch eins. Der Spalt war jetzt breit genug, dass sie hindurchpasste. Tief atmete sie ein, dann schlüpfte sie nach draußen, lauschte und schob den Stein wieder an seine Stelle. Leicht glitt er in seine ursprüngliche Position. Sie war frei. Endlich frei.
    Als Melisande sich umdrehte, versperrten Zweige und Laub ihr die Sicht. Sie ließ sich auf die Knie nieder und kroch durch das

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