Henkerin
für die hohen Herren galten immer noch andere Gesetze als für die, die im Staub krochen. Wenigstens würde er lange im Fegefeuer schmoren. Schließlich wusste jeder, dass die Schmerzen vor dem Tod einem viel Leid in der Vorhölle ersparten.
Manchmal erschreckten diese Gedanken Melisande. Dann blitzte für wenige Augenblicke die Erinnerung an jene Zeit in ihr auf, als sie noch die behütete Händlerstochter gewesen war, die von all den Dingen nichts gewusst hatte, die nun ihr täglich Brot waren. Als Melisande Wilhelmis hatte sie fast nur die schöne Seite des Lebens gesehen, die, auf der die Menschen glücklich, satt und sicher waren. Natürlich hatte sie von der anderen Seite gewusst. Auch damals schon hatte sie Krankheit, Leid und Tod miterlebt, sogar einmal einer Hinrichtung beigewohnt. Aber all diese schrecklichen Dinge hatten nichts mit ihr zu tun gehabt, nichts mit ihrem Leben, nichts mit ihrer Familie.
Wenn Melisande die Augen schloss und die Erinnerung zuließ, war sie für ein paar köstliche Momente wieder das Mädchen, das widerwillig lateinische Psalmen übersetzte, unerlaubt im Wald Hasen jagte und von dem tapferen Ritter Gawan träumte. In letzter Zeit besaß der Gawan ihrer Träume häufig das ebenmäßige Antlitz von Adalbert Breithaupt. Seit sie den Sohn des Zunftmeisters vor einigen Monaten bei einer Gerichtsverhandlung erblickt hatte, verging kein Tag, an dem sie nicht an ihn dachte.
In den letzten fünf Jahren hatte sie sich klaglos in ihr Schicksal gefügt. Der Gedanke an die Rache hatte sie stark gemacht, doch seit sie Adalbert zum ersten Mal gesehen hatte, war alles anders. Sie wollte wieder ein junges Mädchen sein, hübsch und von allen geliebt, nicht der einsame Jüngling, den alle verachteten, weil er die schmutzigen Arbeiten für sie erledigte. Sie stellte sich vor, wie es wäre, wieder Melisande zu sein, Frauenkleider zu tragen und Adalberts bewundernde Blicke auf sich zu spüren. Sie hatte sich sogar hinter Raimunds Rücken ein Gewand genäht, das sie manchmal überstreifte, wenn er tief und fest schlief. In der Klinge des Richtschwerts bewunderte sie dann ihr Ebenbild, ließ sich von einem unsichtbaren Adalbert zum Tanz bitten. Wenn er sie doch nur ein Mal so sehen könnte! Sie war sich sicher, er würde ebenso in Liebe zu ihr entflammen, wie sie für ihn entflammt war.
Aus Raimunds Kammer ertönte ein Geräusch. Melisande zuckte zusammen. Rasch räumte sie ab, säuberte das Geschirr und stellte es wieder an seinen Platz. Noch einmal trat sie zu dem Mann, der in ihrem Herzen den Platz ihrer Familie eingenommen hatte. »Ich komme gleich nach der Hinrichtung wieder«, flüsterte sie. »Dann lese ich dir etwas aus der Bibel vor, die Meister Henrich uns geborgt hat.«
***
Wendel Füger griff eine Handvoll Erde und roch daran. Dann zerkrümelte er sie zwischen den Fingern. Zufrieden nickte er. Der Sommer nahm einen guten Verlauf. Nicht zu feucht, nicht zu trocken, genug Sonne, damit die Rebstöcke reichlich Trauben trugen. Sie würden prall sein und ausreichend Süße für einen gehaltvollen Wein besitzen, der einem nicht den Gaumen verätzte. Sein Vater hatte die Rebstöcke pflanzen lassen, als Wendel vor dreiundzwanzig Jahren geboren wurde, und tief hatten sie ihre Wurzeln in den Boden getrieben.
Es war früh am Tag. Tau lag auf den Blättern, die Sonne hatte sich soeben über den Horizont erhoben. Wendel richtete sich auf, über ihm strahlte die weiße Burg Achalm, die die Reutlinger zu jeder Stunde des Tages daran erinnerte, wie dicht vor den Toren der Stadt das Feindesland begann. Die Burg gehörte zu Württemberg, ebenso wie das obere Stück des Berges, der ihren Namen trug. Die tieferen Hänge der Achalm waren mit Weingärten bedeckt. Einige der ertragreichsten gehörten seiner Familie, allen voran die Sommerhalde und der Lichtenberg, Südlagen, die auch süßen Wein hergaben, wenn das Jahr kalt und regnerisch war.
Einen besonders guten Weingarten hatte Wendels Vater, Erhard Füger, erst im vergangenen Jahr erworben: Der alte Ammann hatte das Ammändle hergeben müssen, weil ihm die Schulden über den Kopf wuchsen. Die Ammanns waren eine alte Patrizierfamilie, die viel Einfluss besaß, doch auch dem Prunk zugeneigt war. Zudem war sie mit sieben Töchtern gesegnet, die verheiratet werden mussten, ein kostspieliges Unterfangen. Erhard Füger hatte dem Alten einen guten Preis geboten, und der hatte zähneknirschend eingeschlagen, nur ungern übergab er seinen Besitz an einen
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