Henkerin
dass er nicht verrückt geworden war, so wie der Sohn des Müllers Hertfried, der so lange den Kopf gegen die Wand geschlagen hatte, bis er tot umgefallen war. Sie hatte ihm ihre Tafel gereicht. Aber er konnte seine Hände nicht bewegen. Nichts konnte er bewegen, bis auf seine Augen und seinen Kopf. Melisande hatte gebetet wie noch nie, und Gott hatte zumindest ein wenig Erbarmen gezeigt und seinen linken Arm wieder zum Leben erweckt.
Raimund öffnete die Augen, lächelte sie an und krakelte auf Melisandes Wachstafel, was er seit Monaten darauf krakelte: »Erlöse mich.«
Sie flüsterte, was sie immer flüsterte: »Ich kann nicht. Verzeih mir.« Sie wusch ihn, wechselte die Tücher, die sie ihm anlegte, damit er nicht immer das ganze Bett durchnässte und verschmutzte, massierte ihm Arme und Beine, drehte ihn auf die Seite. Siebenmal am Tag brachte sie ihn in eine andere Position, salbte die Stellen, auf denen er auflag, damit er nicht bei lebendigem Leibe verfaulte. Im Katharinenhospital hatte sie Bettlägerige gesehen, deren Rücken nur noch aus rohem Fleisch bestand. Raimund sollte zumindest dies erspart bleiben.
Heute war ein besonderer Tag. Eine Hinrichtung stand an, nicht ihre erste, aber dennoch eine Aufgabe, die sie nicht alle Tage zu bewältigen hatte. Fünf Jahre war es her, dass Melisande sich in Melchior verwandelt hatte, den stummen Lehrling des Henkermeisters Raimund Magnus. Und seit der Schlag Raimund ans Bett gefesselt hatte, war sie der Henker von Esslingen.
Vor vier Wochen, in der Nacht zum Walpurgistag, hatten sie einen Mann dabei erwischt, wie er eine Frau zuerst geschändet und ihr danach die Kehle durchgeschnitten hatte. Das Messer hatte er noch in der Hand gehalten, die vornehmen Kleider, in die er gehüllt gewesen war, tropften vom Blut seines Opfers. Er hatte gequiekt wie ein Schwein, als ihn die Büttel fortzerrten. Er habe das nicht getan, er sei erst dazugekommen, als sie schon tot war.
Melisande hatte keine fünf Minuten gebraucht, um das Geständnis aus ihm herauszubekommen. Sie hatte ihn in den Keller geführt und ihm gezeigt, welche Werkzeuge ihr zur Verfügung standen, um seine Zunge zu lösen. Auf ihre Tafel hatte sie ein Bild gemalt, das zeigte, wie sie ihm die Fingernägel ausreißen würde. Der Schreiber konnte gar nicht so schnell die Feder tanzen lassen, wie der Mörder beichtete.
Für heute war der Prozess angesagt, und die Stadt lief über von Schaulustigen, denn eine Hinrichtung hatte es schon lange nicht mehr gegeben, schon gar nicht die eines vornehmen Mannes.
Sie kochte einen kräftigen Brei mit Honig und frischer Minze. Der Sommer hatte bislang genug Regen gebracht, sodass alle Kräuter prächtig gediehen. Den Tisch hatte sie vor die Schlafkammer gestellt und um ein Brett erweitert, damit Raimund mit seinem gesunden Arm an die Schale herankam. Er tauchte den Löffel in den Brei, hob ihn an, strich ihn an der Kante sauber und steckte ihn in den Mund. Langsam zog er ihn wieder heraus, schluckte und wiederholte die Bewegung.
Während Raimund aß, bereitete sich Melisande auf die Hinrichtung vor. Sie legte die Schnürung an, mit der sie ihr wahres Geschlecht verbarg. Nur gut, dass es nicht sehr viel zu verbergen gab, so mancher Mann besaß größere Brüste als sie. Trotzdem schnürte sie ihren Oberkörper ein, dass es aussah, als sei sie flach wie ein Brett. Mit einigen tänzelnden Schritten prüfte sie ihre Bewegungsfreiheit. Die Schnürung saß genau richtig. Darüber zog sie ihr Henkersgewand: Mit großen grünen, roten und blauen Vierecken zeigte es unmissverständlich an, welchen Beruf sie ausübte. Das Haupt verhüllte sie mit einer schwarzen Kapuze aus glänzendem Samt.
Raimund lächelte ihr zu.
»Es ist heute«, flüsterte sie. »Ludwig Mintrop. Der Schänder. Er hat noch drei weitere Gräueltaten zugegeben. Bald wird er vor den Herrn treten.«
Raimunds Augen formten eine Frage.
»Warum er nicht gevierteilt oder zumindest aufgeknüpft wird? Er hat einflussreiche Freunde. Man hat mir bedeutet, ihm ein wenig Traumsaft einzuflößen, damit er nicht leidet. Aber beerdigt wird er trotzdem nicht. Hängen wird er ohne Kopf, bis ihm die Gliedmaßen abfallen und kein Stück Fleisch mehr an ihm ist.«
Raimund nickte, seine Augen hatten sich verfinstert. Melisande wusste, was er dachte. Es war unrecht, dass Mintrop nur geköpft wurde. Der Mann gehörte gerädert und dann vor der Stadt gehenkt. Sein Geschlechtsteil sollte man den Hunden zum Fraß vorwerfen. Aber
Weitere Kostenlose Bücher