Henkerin
wusste nur, dass er ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn trieb. Nur in der Schlacht, im Kampf, wich der Schmerz und verstummte für einige Zeit. Aber an so einem Abend, warm und dazu gemacht, das Leben in vollen Zügen auszukosten, an so einem Abend tobte er in seinen Eingeweiden ärger als sein schlimmster Feind.
De Bruce nahm seinen Dolch, schob den Ärmel seiner Cotte hoch und ritzte sich eine Linie in den Arm, Blut quoll hervor und lief über die dicht an dicht liegenden Narben. Er atmete laut aus, seufzte. Erleichterung pulste durch seine Adern, zumindest für die nächsten Stunden.
»Wo steckst du?«, fragte er in die Luft, doch wie erwartet erhielt er keine Antwort. Genauso wenig wie auf die Frage, ob das tote Mädchen, das sein Hauptmann ihm gebracht hatte, tatsächlich Melisande Wilhelmis war. Er zweifelte nicht an den Worten von Säckingens. Dieser Mann war ein Ritter alter Schule und würde nur lügen, wenn sein Leben davon abhinge. Er hatte ein Mädchen gefunden, das Melisande Wilhelmis ähnlich sah, das zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen war. Das Mädchen konnte Melisande sein – oder irgendein anderes von den vielen, die jedes Jahr verschwanden.
De Bruce horchte in sich hinein. Der Schmerz war fort, doch die Unruhe war noch da. Melisande Wilhelmis war nicht tot. Sie lebte. Irgendwo da draußen. Er zog die silberne Haarspange hervor, die von Säckingen im Wald gefunden hatte, und betrachtete sie. Er würde seine Wachsamkeit nicht aufgeben. Niemals. Bis er die verfluchte Metze mit eigenen Händen in die Hölle stoßen würde.
***
Seit Stunden lag Melisande wach. Sie hatte den Vorhang vor ihrer Schlafkammer nicht zugezogen. Ihr Blick ruhte auf dem Schwert, dessen Klinge im Zwielicht matt schimmerte, ihre Ohren nahmen all die fremden Geräusche wahr. Nie hätte sie gedacht, dass nur einen Bogenschuss von ihrem Zuhause entfernt alles anders roch, sich alles anders anhörte. Zu Hause hatte es meistens nach frischem Brot oder nach den kostbaren Tuchen gerochen, mit denen ihr Vater handelte. Auch die Gewürze, die in der Speisekammer lagerten, hatten ihren wunderbaren Duft verströmt. Am liebsten hatte sie das Rosenöl gerochen, mit dem sich Mutter abends eingerieben hatte.
Das Haus des Henkers roch ebenfalls angenehm, nach den Kräutern, die in Bündeln zum Trocknen aufgehängt waren, dem Eintopf, den Raimund Magnus gekocht hatte, nach Rauch und trockenem Holz. Melisande sog tief die Luft ein. Da war noch etwas anderes. Sie konnte es nicht benennen. Es war mehr ein Gefühl. Trost. Sie spürte Trost.
Das Mondlicht schlich sich durch eine Ritze im Fensterladen und ließ die Klinge des Richtschwertes aufblitzen. Melisande versuchte die Augen zu schließen, aber sofort sah sie die Bilder aus dem Hohlweg vor sich. Das viele Blut, die Verwundeten, die traurigen Augen ihrer Mutter und den Pfeil in Gertruds kleinem Herzen. Sie schob sich vorsichtig aus dem Bett, füllte sich noch einen Becher Wein ab und trank ihn in einem Zug leer. Ein Schleier legte sich über ihre Gedanken. Sie lief zurück in die Kammer, kroch wieder unter die Decke, wo es nach frischem Stroh roch, doch der Schlaf wollte immer noch nicht kommen. Raimund war so reinlich. Fast wie ihre Mutter. Die hatte den ganzen Hausstand verrückt gemacht mit Putzen und Fegen und Waschen.
Der Mond zog weiter, die Klinge aber hörte nicht auf zu blinken. Melisande hörte den Schlüssel im Schloss und ließ rasch ihren Kopf auf die Seite fallen. Raimund versuchte, sich ins Haus zu schleichen, aber er machte Lärm, als würde ein ganzer Heertross über sie herfallen. Schlurfend näherte er sich ihrer Schlafkammer. Seine Hand strich über ihren Kopf, er zog ihr die Decke bis ans Kinn.
Melisande roch das Bier, hörte seinen Atem und den Satz, den er stockend flüsterte. »Melisande Wilhelmis, ich schwöre bei Gott und meinem Leben, dass ich dich beschützen werde, als wärest du mein eigenes Kind.«
Nochmals strich er ihr über das Haar, die Schritte entfernten sich, und fast augenblicklich war aus der Kammer nebenan ein lautes Schnarchen zu hören.
D IE H ENKERIN
J UNI 1330
Raimund sah in seinem grünen Wams aus wie ein Edelmann. Stattlich. Einen besseren Brautvater konnte es nicht geben. Melisande war stolz auf Raimund. Tiefrot leuchtete ihr Kleid, das sie sich für den schönsten Tag ihres Lebens hatte anfertigen lassen, es betonte das leuchtende Feuer ihres Haares. Heute würde sie heiraten.
Vor dem Schwörhaus warteten ihr Bräutigam
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