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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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Raimund eine Lösung für sein Problem fand. Bis er eines Tages in seinem Beutel eine Münze entdeckte, die er nicht kannte. Schlagartig wurde ihm klar, wie er Melisande verstecken konnte, ohne sie wegzuschicken, und wie er gleichzeitig das Problem seiner Nachfolge regeln konnte. Wo fiel eine Münze am wenigsten auf? In einem Beutel voller Münzen!
    Am nächsten Tag sprach er beim Rat vor und bat um die Erlaubnis, seinen Neffen Melchior zu sich zu holen. Melchiors Eltern seien Opfer eines Überfalls geworden, und der arme Junge wisse nicht, wohin. Der Rat gab zu bedenken, dass Melchior Henker werden müsse. Das sei kein Problem, denn Melchiors Vater sei ebenfalls Henker gewesen. Das Amt bleibe also in der Familie.
    »Eine kleine Schwierigkeit gibt es noch«, sagte Raimund und drehte seine Gugel in der Hand. Er wäre am liebsten davongelaufen. So viel wie an jenem Tag hatte er in seinem ganzen Leben noch nicht gelogen. Und wenn er aufflog ... Nein, daran dachte er besser erst gar nicht. »Alle Dokumente über die Herkunft meines Neffen sind bei dem Überfall verloren gegangen.«
    Der Schultheiß winkte gelangweilt ab. »Kein Problem.«
    Aber Raimund war noch nicht fertig. »Er ist stumm, kann aber leidlich schreiben.«
    Die Räte prusteten vor Lachen.
    »Endlich mal eine gute Nachricht!«, rief Konrad Sempach. »Ein stummer Henker? Was will man mehr! Bring ihn her, wir stellen ihm eine Urkunde aus, und er kann bei dir wohnen. Bring ihm alles bei, was du kannst, damit wir die Reichsstadt mit dem besten Henker bleiben. Allerdings können wir dir nicht mehr Geld geben. Das siehst du doch ein?«
    »Sehr wohl.« Raimund verbeugte sich, verließ das Schwörhaus und musste erst einmal einen großen Humpen Bier trinken, so schlug ihm das Herz. In jeder Schlacht hatte er dem Feind ins Auge geblickt, ohne mit der Wimper zu zucken, da hatte ihn die Angst immer verlassen, sobald er Blut schmeckte. Aber hier, vor den Herren der Stadt, war er sich vorgekommen wie beim Jüngsten Gericht.
    Zwei Wochen später scherte Raimund Melisande das Haar, steckte sie in ein paar abgerissene Beinlinge und ein altes Hemd und führte sie dem Rat vor. Die Ratsherren musterten den zukünftigen Henker kurz, Augenbrauen hoben sich, aber niemand stellte Raimunds Fähigkeit in Frage, aus dem Hänfling einen kundigen und zuverlässigen Henker zu machen. Sie übergaben ihm ohne Aufheben die Urkunde, mittels derer Melisande offiziell zu Melchior, dem Neffen des Henkers Raimund Magnus, wurde, und wandten sich wichtigeren Dingen zu. Zu diesem Zeitpunkt hatte Melisande immer noch kein Wort gesprochen, und es sollte noch ein halbes Jahr dauern, bis sie ihre Worte wiederfand.
    Damals hatte Raimund keine Ahnung, was Melisande fühlte oder dachte. Als er ihr erklärte, dass sie in Zukunft als sein Neffe bei ihm leben würde und dass das bedeutete, dass sie sein Handwerk lernen müsse, hatte sie ihn stumm angeblickt, und in dem Augenblick hatte ihn der Verdacht beschlichen, sie könne den Verstand verloren haben. Ihr Gesicht war vollkommen ausdruckslos gewesen, keine Regung hatte darauf hingewiesen, was in ihrem Kopf vor sich ging. Eine Weile hatte er sogar geglaubt, dass es so das Beste für sie sei. Er ließ sie einfache Arbeiten verrichten, sie lernte schnell und hielt sich peinlich genau an seine Anweisungen. Heimlich beobachtete er sie, wenn sie das Haus fegte oder die Kräuter zu Bündeln zusammenband, doch nie gab ihr Gesichtsausdruck ihre Gefühle preis. Nicht einmal, als der Ausrufer drei Monate nach dem schrecklichen Überfall auf dem Marktplatz verkündete, man habe die Familie Wilhelmis gerächt, den feigen Mörder Friedrich von der Kronenburg in seiner eigenen Festung niedergestreckt, seinen Leichnam an der höchsten Zinne aufgeknüpft und dann die Burg bis auf die Grundmauern niedergebrannt, hob Melisande den Kopf. Sie zuckte kurz zusammen, als der Name ihrer Familie fiel, dann schob sie den Karren mit dem Hundekadaver weiter, den sie zum Haus des Abdeckers bringen sollte, als sei nichts geschehen. Es war, als hätte sich ein dunkler Schleier über ihre Seele gelegt und jede Regung in ihr erstickt.
    Dann eines Abends, als Raimund von einem Gerichtsprozess zurückkehrte, war plötzlich alles anders gewesen. Melisande saß am Tisch, als er das Haus betrat, und er spürte gleich, dass sich etwas verändert hatte. Da lag etwas in ihrer Körperhaltung, in ihrem Blick, das ihn aufmerken ließ.
    »Raimund Magnus«, sagte sie, und er hätte vor Schreck über

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