Henkerin
den ungewohnten Klang ihrer Stimme beinahe den Beutel fallen lassen. »Ich habe lange nachgedacht.«
Er setzte sich zu ihr, spürte, wie ihm vor Freude die Tränen in die Augen schossen. Es war, als wäre sie von den Toten zurückgekehrt.
»Ich werde bei dir bleiben und dein Handwerk erlernen. Und wenn ich deine Nachfolge antrete als Henker von Esslingen, werde ich der Niedrigste und am wenigsten Geachtete von allen sein, die in den Mauern dieser Stadt leben. Doch das werde ich ertragen, denn es wird der Tag kommen, an dem der Mann, der meine Familie abgeschlachtet hat, seine gerechte Strafe erhält, und dann kann ich mich als die zu erkennen geben, die ich eigentlich bin. Dann endlich werde ich frei sein. Bis zu diesem Tag, Raimund Magnus, sollst du meine Familie sein. Du bist mutig, gütig und klug, und ich bin stolz darauf, dein Neffe zu sein.«
Diesmal hatten ihm die Worte gefehlt. Stumm war er aufgestanden und hatte sie fest in die Arme geschlossen.
Von dem Tag an hatte sie fleißig alles gelernt, was er ihr beizubringen hatte. Er spürte, dass es oft sehr schwer für sie war, doch sie klagte nie. Als sie ihm zum ersten Mal in der Folterkammer zur Hand ging, ihm die glühende Zange reichte, war ihr Gesicht weiß gewesen wie frisch gefallener Schnee, doch die Hand, die die Zange hielt, hatte nicht gezittert. Nur einmal in den drei Jahren, bevor sein Unglück sie zwang, vorzeitig seine Stelle einzunehmen, hatte er sie weinen sehen. Sie hatte ihm dabei geholfen, einen jungen Burschen aufzuknüpfen, der kaum älter war als sie selbst. Der Bursche hatte ein kleines Mädchen getötet, die einzige Tochter eines reichen Silberschmieds. Immer wieder, noch mit seinem letzten Atemzug hatte er beteuert, es sei ein Unfall gewesen, dass das Mädchen gestürzt sei, dass er nie die Absicht gehabt habe, ihr Leid zuzufügen. An dem Abend hatte Melisande sich wortlos mit einem Krug Wein in ihre Schlafkammer zurückgezogen. Später, als Raimund selbst schon auf seinem Lager ruhte, hatte er sie schluchzen gehört, laut und verzweifelt, und es hatte ihm beinahe das Herz gebrochen. Am nächsten Morgen jedoch tat sie, als sei nichts gewesen, nur ihre tiefliegenden, rot geränderten Augen verrieten, wie es tatsächlich in ihr aussah. Er sprach nie mit ihr darüber. Was hätte er auch sagen sollen? Niemand wusste besser als sie, dass das Schicksal nicht gnädig oder gerecht war.
Endlich ging die Tür. Das Gewitter war längst weitergezogen, ohne sich zu entladen, und die Nachmittagssonne blinzelte durch das Fenster. Raimund hatte Melisandes Schritte schon vorher gehört, ihren Gang erkannte er auf hundert Fuß Entfernung.
Sie stürzte ins Haus, hängte Nerthus an den Balken und küsste ihn auf die Stirn. »Verzeih mir die Verspätung. Sicher wartest du schon voller Ungeduld.«
Raimund drückte ihre Hand und schaute sie aufmerksam an. Schatten lagen um ihre Augen. Ihr Blick flackerte unruhig. Er blinzelte mehrmals, eine stumme Frage, die sie sofort verstand.
»Du hast richtig geraten. Es ist etwas passiert. De Bruce war am Richtplatz.«
Raimund schluckte hart. Er wollte aufschreien, aber seiner Kehle entrang sich nur ein Krächzen.
Melisande legte ihm die andere Hand auf die Brust. »Er stand plötzlich vor mir, mit erhobenem Schwert. Er hat mich nicht erkannt, sonst wäre ich jetzt nicht hier. Und wenn der Galgen nicht in Sichtweite der Stadt läge, hätte ich ihn nicht entkommen lassen. Dann wäre er noch in derselben Stunde vor seinen Richter getreten.«
Raimund sah, wie die Schatten um ihre Augen einen Moment verschwanden. Er runzelte die Stirn.
»Du fragst dich, was er dort wollte?« Sie lachte bitter. »Du wirst es nicht glauben. Er will von mir lernen. Er hat mich bei der Arbeit beobachtet. Das hat ihn beeindruckt. Und es ist ihm gleichgültig, mit wem er sich in der Öffentlichkeit zeigt.« Raimund spürte Melisandes schmale Finger, die über seinen Kopf strichen. »›Du wunderst dich, warum ich mich mit dem Gemeinsten unter den Gemeinen abgebe‹, hat er gerufen und widerlich gelacht.«
Raimund zuckte zweimal mit dem Zeigefinger.
»Auf Antwort hat er nicht gewartet«, fuhr Melisande fort und machte sich daran, Raimund zu säubern. »Er hat gleich weitergesprochen: ›Weil ich nicht so ein eingebildeter Schwächling bin wie die anderen. Ein Mann ist das wert, was er tut. Egal, ob er Henker ist oder Edelmann. Weißt du, wer ich bin?‹ Ich schüttelte den Kopf. ›Ich bin Ottmar de Bruce, Burggraf auf der
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