Henkerin
angebrochen, Frost hielt die Stadt fest in den Klauen, der Schnee lag mehrere Fuß hoch. Viele Menschen starben, vor allem Alte und Kranke. Er war durch die Gassen gestapft und hatte bei jedem Schritt gespürt, dass mit seinem Körper etwas nicht stimmte. Es war nicht allein die Kälte gewesen. Seine Glieder hatten sich fremd angefühlt, als gehörten sie nicht zu ihm. Damals war er überzeugt gewesen, dass der Tod an seine Pforte klopfte. Doch seine Sorge hatte Melisande gegolten. Würde sie ohne ihn zurechtkommen? Das Schicksal hatte ihn verhöhnt, denn jetzt war er es, der nicht ohne sie zurechtkam.
Ein Jahr zuvor hatte er im gleichen Monat einen Mörder aufgeknüpft. War das der Grund? War der Mann unschuldig gewesen? Hatte Gott ihn dafür gestraft? Doch Raimund hatte sich nichts vorzuwerfen. Er hatte nur die Befehle des Rates ausgeführt. Das Gericht hatte den bulligen Mann, der selbst Raimund noch um einen Kopf überragt hatte, zum Tode verurteilt. Ein Mörder? Er hatte gestanden, Raimund hatte ihn kaum foltern müssen. Zeugen hatte es auch gegeben. Alles war mit rechten Dingen zugegangen. Das enorme Gewicht des Mannes hatte Raimund schlaflose Nächte bereitet. Was, wenn das Seil riss, sobald er dem Verurteilten den Schemel unter den Füßen wegstieß? Oder schlimmer noch, der Balken splitterte? Dreimal suchte er den Seiler auf, um sicherzustellen, dass das Seil gut und fest war. Auch den Galgen überprüfte er selbst. Einen verendeten Gaul knüpfte er daran auf, um die Tragkraft zu kontrollieren. Wenn bei der Hinrichtung etwas schieflief, war sein Leben in Gefahr. Und das von Melisande. Sie war damals fünfzehn gewesen und noch nicht so weit, seinen Platz einzunehmen. Man hätte einen anderen Henker geholt, und ihre Tarnung wäre dahin gewesen.
Feuchtigkeit an seinen Beinen riss ihn zurück in die Gegenwart. Stumm verfluchte er seine Hilflosigkeit, Tränen liefen ihm über die Wangen. Er war immer stolz gewesen auf seinen kräftigen, muskelbepackten Körper. Auf seine Zähigkeit, seine Kampfkraft. Nichts davon war übrig, er war ein jämmerlicher, sabbernder Greis, der ins Bett nässte wie ein Säugling.
Wieder kehrte er im Geist zurück in die Vergangenheit, diesmal noch einige Jahre weiter, zurück in jene Zeit, als Melisande gerade eine Woche bei ihm war. Nach jenem ersten Nachmittag hatte sie nicht mehr gesprochen. Kein einziges Wort. Es war, als hätte man ihr die Zunge herausgeschnitten. Aber immerhin hatte sie verstanden, dass ihr Leben davon abhing, dass sie ihm bedingungslos gehorchte. Tagsüber blieb sie in ihrer Schlafkammer, wenn er außer Haus war.
Gott sei Dank fiel niemandem etwas auf. Raimund hatte seine Gewohnheiten beibehalten, sodass selbst seine Knechte nichts Ungewöhnliches bemerkten. Trotzdem hatte er ständig das Gefühl, beobachtet zu werden. Von jedem, der ihn ansprach, erwartete er die vernichtende Frage: »Wen versteckst du denn da in deinem Haus?«
Immer wenn er einen von de Bruce’ Männern in der Stadt sah, wurde ihm heiß vor Angst, und seine Beine zitterten so heftig, dass er kaum einen Fuß vor den anderen setzen konnte. So konnte es nicht weitergehen. Er musste seinen Plagegeist loswerden. Aber wie? Gott hatte ihm die Verantwortung für Melisande Wilhelmis übertragen, daran gab es nichts zu rütteln. Vielleicht konnte er sie in Reutlingen unterbringen? Da kannte er einen Handwerksmeister, der ihm einen Gefallen schuldete. Aber das war keine Lösung. Reutlingen lag viel zu dicht an Esslingen, man würde über das fremde Mädchen mit dem auffallend roten Haar reden, und de Bruce würde sich ins Fäustchen lachen.
Nein, Melisande musste weit weg. Hoch in den Norden. Oder zu den Magyaren. Dieses kriegerische Volk brauchte immer fleißige Hände, und einen guten Mann würde sie dort auch finden. Sie war hübsch, ihre Mitgift würde die Frage ihrer Herkunft schnell vergessen lassen. Aber wie sollte Melisande zu den Magyaren gelangen? Sollte er sie dorthin begleiten? Das war unmöglich. Raimund konnte Esslingen nicht einfach für ein paar Monate verlassen. Er durfte sich überhaupt nicht aus der Stadt entfernen, außer zum Kräutersammeln. Sollte er sie also einem Handelszug mitgeben? Nein, die Händler waren noch neugieriger als die Weiber auf dem Markt und würden zu viele Fragen stellen.
Oft hatte Raimund nachts wach gelegen, über Melisandes Schicksal gegrübelt. Konnte Gott ihm nicht ein Zeichen senden? Nur einen kleinen Hinweis?
Aber die Tage vergingen, ohne dass
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