Henkerin
Und wenn sie erst Nerthus in den Händen hielt, würde sich auch eine Gelegenheit ergeben, ihren Plan auszuführen.
Sie begann damit, Sigmund die Ausgangsstellung zu zeigen. Er stellte sich geschickt an, begriff schnell. Mit einem Seitenblick erkannte Melisande, dass de Bruce alles nachmachte, dass auch er rasch lernte. Doch das Zusammenspiel der Bewegungen erforderte jahrelange Übung. Hielt man das Schwert nur einen Zoll tiefer oder höher, stimmte der Schwerpunkt nicht mehr, und der Schlag ging fehl.
Zwei Stunden übten sie, dann befahl de Bruce eine Pause. Die Männer schirmten den Grafen von Melisande ab, teilten aber ihr Mahl mit ihr. Sie hatten offenbar vergessen, dass ein Henker in ihrer Mitte weilte. So als wären sie im Felde, galt nur das Schwert, nicht der Stand.
Der Karcher und sein Begleiter hatten sich neben de Bruce niedergelassen und beäugten Melisande mit scheuen Blicken. De Bruce schlug dem Bleichgesicht auf die Schulter. »Habe ich Euch zu viel versprochen, Wendel Füger? Was sind schon Gaukler? Was sind Schauspieler gegen das echte Leben? Frühstück mit Meister Hans, ohne den Kopf zu verlieren, das ist wahres Theater!«
Der Karcher hustete und lachte gequält.
»Esst, Füger, esst und trinkt, damit der Geist des Bieres Euren Leib verlässt.« De Bruce nickte einem Mann zu. Der zückte sein Messer, ließ es durch die Kruste eines Brotes gleiten, rutschte ab und schnitt sich in die Hand. Der Mann stöhnte, Blut sprudelte hervor.
Melisande sprang auf, zwei Männer taten es ihr gleich und hielten ihr ihre Messer vor die Nase. Sie zog vorsichtig ihre Tafel aus dem Wams, schrieb einen Satz und hielt ihn de Bruce hin, denn die Söldner konnten mit Sicherheit nicht lesen.
De Bruce nickte, trat mehrere Schritte zurück und zeigte auf den Mann, der die Gesichtsfarbe verloren hatte. Melisande kniete sich neben ihn, stillte die Blutung mit einem Tuch, strich Kräuterpaste gegen Wundbrand auf die Wunde und umwickelte die Hand mit einem sauberen Stück Leinentuch.
Kaum war sie fertig, ertönte hinter ihr die Stimme des Grafen. »Meister Hans«, rief de Bruce. »Eure Hilfe wird ein weiteres Mal gebraucht!« Er zeigte auf Wendel Füger, der besinnungslos ins Gras gesunken war. Sein Begleiter kniete mit besorgtem Blick neben ihm und hielt seine Hand.
»Das kommt davon, wenn man kein Starkbier gewöhnt ist«, tönte de Bruce. »Der hat gestern wohl ein Fass allein geleert. Ist halt doch kein echter Mann.«
Die Söldner lachten. Melisande erkannte, dass der Karcher in Ohnmacht gefallen war. Aber warum? Sie konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, denn schon drängte de Bruce zum Aufbruch. Wendel Füger wurde mit einer Ladung Wasser und ein paar gutgemeinten Stübern geweckt und auf sein Pferd gehievt.
»Ich melde mich für eine weitere Übungsstunde!« De Bruce warf Melisande ein Geldstück zu und saß auf. Im nächsten Moment waren er und seine Männer verschwunden. Nur die Strohpuppen und ihr grenzenloser Schmerz erinnerten Melisande an das, was in den letzten Stunden geschehen war. Oder vielmehr an das, was nicht geschehen war.
***
Vor dem Haus wartete der Büttel, schon von weitem sah Melisande ihn unruhig hin- und herlaufen. Sein Gesicht war angespannt, seine Augen huschten nervös hin und her.
»Endlich. Da bist du ja!« Der Büttel atmete erleichtert auf. »Du musst sofort mitkommen! Der ehrenwerte Ratsherr Konrad Sempach wartet. Es ist dringend!«
Melisande blieb nichts anderes übrig, als der Aufforderung Folge zu leisten. Dabei hätte sie sich am liebsten in ihre Kammer verkrochen, sich die Decke über den Kopf gezogen und wäre nie wieder aufgestanden. Was sie als Tag der Rache feiern wollte, war zu einem weiteren Tag des Triumphes für de Bruce geworden. Immer wieder hatte sie sich auf dem Heimweg gefragt, ob Gott sie damit hatte auffordern wollen, ihre Pläne aufzugeben, ihr Schicksal anzunehmen. Aber konnte er tatsächlich wollen, dass ein derartiges Unrecht für alle Zeiten ungesühnt blieb?
Melisande hatte keine Gelegenheit, weiter darüber nachzudenken. Ihr blieb nur ein Augenblick, um eben ins Haus zu huschen, kurz nach Raimund zu sehen, der unruhig schlief, das Schwert an seinen Platz zu hängen und nach ihrem Beutel zu greifen.
Vor dem Kerker, in dem die Magd einsaß, lief Konrad Sempach auf und ab. Als er Melisande sah, schrie er sie an, als wolle er eigenhändig eine peinliche Befragung durchführen. »Sieh, was du angerichtet hast, du elender Versager! Was ist passiert? Was
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