Henkerin
Augenblick war gekommen. Jetzt war es an ihr, nicht aus Ungeduld einen Fehler zu begehen. Bereits beim ersten Licht der Dämmerung war sie aufgebrochen. Nerthus hatte sie in Decken eingehüllt, damit niemand sah, dass sie das Richtschwert aus der Stadt entfernte, oder sich versehentlich an der vergifteten Klinge schnitt. Die Wachen am Heiligkreuztor hatten ihr ohne Zögern die Pforte geöffnet, und als sie sich an den Aufstieg gemacht hatte, hatte sich der erste Sonnenstrahl über den Fildern gezeigt.
Nach de Bruce saßen nun auch seine Männer ab. Zwei der Söldner wickelten die Bündel aus, die sie auf ihren Pferden mit sich geführt hatten. Strohpuppen kamen zum Vorschein. Die Männer stellten sie nebeneinander auf.
Melisande staunte. De Bruce war wirklich nicht dumm, und er wollte anscheinend tatsächlich lernen, wie man einem Mann mit einem Streich den Kopf abschlug. Sie hob ihr Schwert, machte einen Schritt auf de Bruce und die Puppen zu, doch schon versperrten ihr vier Speere den Weg.
»Mach dir nichts draus, Meister Hans, das ist nicht herabsetzend gemeint«, sagte de Bruce mit einem breiten Grinsen. »Ich bin ein Mann von hoher Ehre, und da Ehre gemeinhin Neid und Missgunst auslöst, ist die Zahl meiner Feinde nicht eben gering. Das betrifft auch die Mittel, über die manch einer von ihnen verfügt. Nicht wenige würden, ohne mit der Wimper zu zucken, hundert Pfund Silber aufwenden, um meinen Kopf in ihre Trophäensammlung einreihen zu können. Deshalb kann ich nicht vorsichtig genug sein. Senk also dein Schwert, und zeige mir hiermit, wie du den Schlag führst.«
Er warf ihr ein Schwert zu, das genauso gearbeitet war wie ihr Richtschwert.
Melisande fing es auf, wog es in der Hand. Das Schwert war stumpf. Damit konnte sie de Bruce nicht einmal einen Kratzer zufügen! Eine perfekte Arbeit, eine prächtige Klinge. Eine reine Klinge ohne Gift. Sie atmete tief ein und aus, um nicht laut loszuschreien. Gerade noch hatte sie de Bruce in ihrer tödlichen Falle zappeln sehen, und schon war er ihr entwischt. Sie musste Ruhe bewahren, jetzt erst recht. Es würde sich eine Gelegenheit bieten, die Schwerter wieder auszutauschen. Später, wenn die Aufmerksamkeit der Söldner etwas nachließ.
Die Speere zogen sich zurück. Vorsichtig ging Melisande in Stellung, nicht breitbeinig wie die meisten ihrer Kollegen, sondern den linken Fuß schräg nach hinten versetzt, seitlich zu der Strohpuppe. Das Schwert hob sie mit beiden Händen über den Kopf, ließ die Spitze auf ihren Rücken sinken. Sie schwang den linken Fuß nach außen, drehte sich in der Taille mit, und ihr ganzer Körper federte zurück. Das Schwert schien zuerst langsam mitzuschwingen, aber plötzlich entlud sich die ganze Kraft der Bewegung in einem einzigen zuckenden Hieb.
Der Strohkopf traf de Bruce, der so verblüfft war, dass er nicht mehr hatte reagieren können. Melisande stützte sich auf das Schwert, lächelte und ließ ihren Blick über die Männer schweifen. Dem jungen Karcher waren fast die Augen aus dem Kopf gefallen, er wich Melisandes Blick aus. Die anderen Männer verbargen ihre Gefühle.
De Bruce knetete seine Finger. »Jetzt verstehst du wohl, dass ich vorsichtig sein muss. Wärst du ein gedungener Mörder, mein Kopf würde schneller fallen, als ein Mann vom Schlag getroffen wird. Ich bin beeindruckt. Sigmund!« Einer der Männer sprang zu ihm. »Du wirst an Sigmund vorführen, was ich tun muss, ich tue es ihm nach.«
Melisande biss sich auf die Lippe. Auch das noch! Selbst wenn sie noch ihr eigenes Schwert hätte, würde sie nicht an ihren Feind herankommen. So nah war sie dem Mörder ihrer Familie. Und doch war er unerreichbar. Selbst wenn sie ihr Schwert packte und versuchte, sich durchzukämpfen, gegen sieben erfahrene Krieger konnte sie nichts ausrichten. Sie flehte Gott an. Herr, warum schickst du mir meinen Feind, lieferst ihn mir auf einem silbernen Tablett, nur um ihn mir gleich wieder zu entziehen? Wie lange soll ich noch leiden?
Sie rang nach Fassung. Sie durfte sich nicht anmerken lassen, welcher Sturm in ihrem Inneren tobte. Wenn de Bruce auch nur den geringsten Verdacht schöpfte, war sie verloren, dann würde sie hier und heute ihr Leben lassen, und jede Hoffnung, dass de Bruce eines Tages für seine Verbrechen bezahlen würde, wäre für alle Zeiten dahin.
Geduld! Sie musste sich in Geduld fassen. Noch war nicht alles verloren. Ein Moment, ein kleiner Moment, in dem die Männer nicht aufmerksam waren, würde genügen.
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