Henkerin
Hier gab es keine Kreuze oder Totenbretter wie auf dem Kirchhof, doch wenige Schritte rechts von sich erblickte Melisande frische Erde. Vermutlich waren dort vor zwei Tagen die Magd Agnes und ihr Neugeborenes verscharrt worden.
Rasch hob Melisande den Kopf. Die Knechte nickten und hievten den Toten vom Karren. Als sie ihn aus der Rinderhaut wickeln wollten, hinderte Melisande sie mit einer heftigen Handbewegung daran. Nur wohlhabende Bürger konnten es sich leisten, ihre Toten mitsamt der Haut oder gar mitsamt dem hölzernen Sarg zu bestatten, in dem der Leichnam zu Grabe getragen wurde. Melisande war wohlhabend, auch wenn es niemand wusste. Die Vorstellung, Raimund müsse ohne jede schützende Hülle in der kalten, feuchten Erde liegen, war ihr unerträglich. Sie traute zwar den Totengräbern nicht, die gewöhnlich alles zu Geld machten, dessen sie habhaft werden konnten. Doch sie hoffte, dass die beiden die angeblich magischen Kräfte des Henkers ausreichend fürchteten, um die Finger von seiner letzten Ruhestätte zu lassen.
Die Henkersknechte schauten erstaunt, zuckten dann aber mit den Schultern und ließen den Leichnam mitsamt der Haut in die Grube hinab. Nach getaner Arbeit traten sie zurück.
Melisande stellte sich an das offene Grab und faltete die Hände. Gerade als sie stumm ein Gebet sprechen wollte, hörte sie hinter sich Schritte. Erschrocken fuhr sie herum und lächelte im gleichen Augenblick erleichtert, als Meister Henrich neben sie trat. Er war doch gekommen! Mit gesenktem Haupt schlug er das Kreuz und sprach laut das Vaterunser.
Melisande konnte den Blick nicht von dem Grab abwenden. Tränen brannten in ihren Augen. »Raimund«, dachte sie, »lieber, gütiger Raimund, was soll ich nur ohne dich machen?« Sie wankte, schloss die Augen, fasste sich wieder. Als sie sich endlich widerstrebend umdrehte, blickte sie Meister Henrich direkt in die Augen.
»Na, na, mein Junge!« Er sah sie streng an. »Du musst dich zusammenreißen!«
Rasch schlug Melisande die Augen nieder.
»Ich muss zurück an meinen Gärbottich«, sagte Henrich. »Wenn du etwas brauchst, weißt du, wo du mich findest.« Er wandte sich ab und verließ sie eiligen Schrittes.
Reglos beobachtete Melisande, wie er sich in Richtung Schelztor entfernte. Ihr war, als würde nun auch ihre letzte Verbindung zu den Menschen reißen. Noch einmal sah sie hinunter in die Grube, dann raffte sie sich auf und erlöste die Totengräber, die schon unruhig hin und her liefen. Sie gab jedem von ihnen einen Pfennig extra, damit sie ihre Arbeit ordentlich verrichteten, und schritt davon, ohne sich umzublicken.
***
Nun gab es nichts mehr, das Melisande noch in Esslingen hielt. Am besten wäre es, die Stadt unverzüglich zu verlassen, bevor ihr der Fluchtweg versperrt war. Doch irgendetwas ließ sie zögern, als hätte sie noch eine letzte Aufgabe zu erledigen.
Sie räumte das Haus auf, das ohne Raimund nur noch ein Haufen Holz und Steine war. Reinigte Schüsseln und Becher, wusch das Laken, auf dem Raimund zuletzt gelegen hatte, und fegte die Stube. Als es gegen Mittag heftig gegen die Tür klopfte, fuhr sie erschrocken herum. Draußen stand der Büttel, das Gesicht undurchdringlich wie immer, doch kleine Schweißperlen auf seiner Stirn verrieten, dass er den Weg zum Haus des Henkers gerannt war. Hatte sie zu lange gewartet? Hätte sie sich gleich davonmachen sollen?
»Die Ratsherren und Richter Konrad Sempach und Enders von den Fildern erwarten dich. Bring deine Tasche mit. Schnell!«
Erschrocken raffte Melisande ihre Sachen zusammen und folgte dem Mann. Würde man nun wegen des Todes der Magd über sie zu Gericht sitzen? Ausgerechnet heute, am Tag von Raimunds Beisetzung? Hatte Sempach ihr nicht versprochen, den Prozess ein paar Tage hinauszuzögern?
Benommen stolperte Melisande hinter dem Büttel her, kaum nahm sie die Menschen wahr, die sie mit einer Mischung aus Abscheu und Neugier anstarrten. Erst als der Büttel abrupt stehen blieb, bemerkte Melisande, dass er sie zum Schelkopfstor geführt hatte. Dort erwarteten sie Konrad Sempach und Enders von den Fildern. Der alte Enders von den Fildern blickte ernst, Konrad Sempachs Miene war nicht zu deuten.
»Melchior«, begann von den Fildern, »mein Beileid zu deinem Verlust. Ich glaube, der Herr war gnädig, dass er deinen Onkel endlich zu sich genommen und von seinem Leiden erlöst hat.« Er räusperte sich. »Du weißt, dass dir noch ein Prozess bevorsteht? Die Magd hätte nicht sterben
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