Henkerin
wieder aufrichtete und seinen Weg durch die Gasse fortsetzen wollte. Lautlos trat er hinter ihn, umfasste mit dem linken Arm dessen Kinn, riss es zurück und setzte das Messer an die Kehle. Mit einem einzigen kräftigen Schnitt schlitzte er sie so tief auf, dass das Blut in einem weiten Bogen spritzte.
Röchelnd sank der Betrunkene in die Knie. Der Mörder war rechtzeitig einen Schritt zurückgetreten und wartete ab, bis der Sterbende langsam zu Boden gesunken war. Dann beugte er sich über ihn und stach auf den leblosen Körper ein, wieder und wieder, ganz so, wie man es ihm aufgetragen hatte. Der Schweiß brach ihm aus, schnaufend hielt er inne und rieb sich mit dem Ärmel seines Surcots über die Stirn.
»Das sollte genügen«, brummte er grimmig. Sorgfältig legte er das Messer neben dem Leichnam ab, zückte ein Tuch und reinigte seine besudelten Hände. Kurz horchte er in die Nacht, und als er nichts vernahm außer dem entfernten Schrei einer Eule, stopfte er das Tuch in seinen Beutel und schritt in Richtung Webergasse davon.
***
Es war ein trister Zug, der dem Henker Raimund Magnus auf seiner letzten Reise Geleit gab. Die beiden Henkersknechte, magere Kerle in Lumpen mit schmutzigen, ausdruckslosen Gesichtern, zogen den Karren, auf dem der in eine Rinderhaut eingewickelte Leichnam lag. Ihnen folgte mit steifen, unsicheren Schritten Melisande. Das farbenfrohe Gewand, das sie tragen musste, bildete einen scharfen Kontrast zu der Finsternis, die sich in ihrem Inneren breitgemacht hatte.
Grauschwarze Wolken stoben über den Himmel, und schneidender Ostwind sorgte dafür, dass es ungewöhnlich kühl für einen Junitag war. Der Rat hatte den Wächter angewiesen, das Schelztor ausnahmsweise zu öffnen, damit der Leichenzug die Stadt auf dem schnellsten Weg verlassen konnte.
Dicht an die Stadtmauer gedrängt, zu linker Hand des Tores, lag der Anger, auf dem die Toten bestattet wurden, denen kein christliches Begräbnis zustand, Verbrecher, Ketzer, Selbstmörder. Und ungetaufte Kinder. An einem frisch ausgehobenen Grab kam der kleine Zug zum Stehen. Der dunkle, feuchte Erdhügel glänzte im fahlen Morgenlicht, zu Melisandes Füßen schimmerten einige weiße Fingerknochen. Kein Grab währte lange als Ruhestätte für einen einzelnen Toten, dafür gab es einfach nicht genug Platz, weder auf dem Kirchhof in der Stadt noch hier draußen in der ungeweihten Erde. Zwei Totengräber standen auf ihre Spaten gestützt in der Nähe unter einem Baum und stierten scheinbar teilnahmslos in Leere. Dabei war selbst für sie die Beerdigung eines Henkers nichts Alltägliches.
Melisande ließ ihren Blick über das Gräberfeld gleiten, um nicht in das schwarze Loch schauen zu müssen, in das Raimund herabgelassen würde. Die ganze Nacht hatte sie bei ihm Wache gehalten, ihn gewaschen, seinen mageren Körper mit duftenden Spezereien eingerieben und mit dem Totenhemd bekleidet. Sie hatte Kerzen entzündet, verschwenderisch viele, und leise gebetet, bis das graue Licht des Morgens durch die Ritzen in den Läden auf Raimunds lebloses Gesicht fiel. In Gedanken war sie immer wieder zurückgekehrt zu den glücklichen Augenblicken, zu den Stunden, die sie fast unbeschwert miteinander verbracht hatten. War nicht alles besser als der Tod? Sie hätte Raimund noch hundert Jahre gepflegt und noch einmal hundert Jahre, nur um seine warme Hand zu spüren, nur um in seine gütigen Augen schauen zu können. Aber das war nun für alle Zeit vorüber. Allein der Gedanke daran, dass für Raimund nun alles irdische Leiden ein Ende hatte, hatte Melisande getröstet, wann immer der Schmerz gedroht hatte, all ihren Lebenswillen hinwegzuspülen.
Meister Henrich hatte sich um alles Weitere gekümmert, den Rat benachrichtigt, die Totengräber angeheuert, die Rinderhaut bringen lassen, in die Raimund eingewickelt war.
Melisande seufzte tonlos. Wie gern hätte sie den gütigen Meister jetzt an ihrer Seite! Doch zur Beisetzung des Henkers zu erscheinen war wohl selbst für einen mutigen Mann wie ihn zu gewagt. Er hatte schon genug aufs Spiel gesetzt, indem er den sterbenden Raimund in seinem Haus besucht hatte. Wenn seine Kundschaft das wüsste, würde Henrichs Bier in den Fässern schal werden. Niemand würde etwas trinken, das ein Mann gebraut hatte, der dem Henker die Hand gab.
Melisande versuchte den Gedanken abzuschütteln. Sie wusste, dass die beiden Knechte auf einen Befehl von ihr warteten, doch ihr Blick glitt immer noch unruhig über das Gräberfeld.
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