Henkerin
Henrich musste es rechtzeitig schaffen, oder konnte Gott so grausam sein, ihnen selbst diese Gnade zu verwehren?
Sie bekreuzigte sich und wandte sich wieder Raimund zu. Jeder Atemzug, den er unter Mühen und Qualen tat, konnte sein letzter sein. Plötzlich ging ein Zucken über sein Gesicht, seine Augäpfel rollten hektisch hin und her. Panik grub sich in seine Gesichtszüge, wie ein Ertrinkender fuchtelte er mit der Hand herum, bis Melisande sie nahm und beruhigend drückte. Sie suchte seinen Blick und erkannte, dass er nichts mehr sah.
»Ich bin hier, Raimund Magnus«, sagte sie und legte so viel Wärme und Zuversicht in ihre Worte, wie sie vermochte, obwohl ihr Herz kalt und starr vor Angst war. »Alles wird gut.«
Es gab nichts mehr zu sagen oder zu tun, also warteten sie gemeinsam, lauschten den langsam verstummenden Geräuschen der Stadt und hofften, bald den forschen Gang des Braumeisters zu hören.
Eine Kerze war bereits niedergebrannt. Melisande entzündete eine neue, als sie Schritte vernahm. Sie hob den Kopf und horchte. Es klopfte leise, dann ein Flüstern.
»Melchior, Raimund, ich bin es, Meister Henrich.«
Melisande sprang zur Tür und ließ Meister Henrich ein. Mit der Hand bedeutete sie ihm, zu Raimunds Schlafkammer durchzugehen. Sagen durfte sie nichts. Denn auch wenn Meister Henrich Raimunds einziger Freund war, so hatte er ihn dennoch niemals in ihr Geheimnis eingeweiht. »Es ist zu Henrichs Schutz«, hatte Raimund immer wieder erklärt. »Wenn er nichts weiß, kann er auch nicht der Mitwisserschaft belangt werden. Und es ist zu deinem Schutz, Melisande. Je weniger Menschen dein Geheimnis kennen, desto geringer ist die Gefahr, dass de Bruce dich aufspürt. Vergiss das nie.«
Melisande wünschte sich nichts sehnlicher, als mit dem klugen Braumeister sprechen zu dürfen, seinen Rat einzuholen, ihm ihr Herz auszuschütten und all ihren Kummer hinauszuschreien. Doch das Versprechen, das sie Raimund gegeben hatte, verschloss ihr den Mund. Sie wollte die beiden Männer in der Schlafkammer allein lassen, doch Raimund streckte suchend den Arm nach ihr aus.
Henrich blickte sie erschrocken an. »Er sieht nichts mehr?«
Sie nickte, und obwohl sich Meister Henrich schnell abwandte, sah sie es feucht in seinen Augen schimmern.
Henrich ließ sich auf dem schmalen Strohlager nieder. »Raimund, Freund, es zerreißt mir das Herz, dass ich von Euch Abschied nehmen muss.«
Raimund rührte sich nicht, doch seine blinden Augen füllten sich mit Tränen. Sein Atem ging stoßweise, er bekam kaum noch Luft. Er ließ Melisandes Hand los und tastete nach der Hand des Meisters. Der begriff und reichte sie ihm. Raimund nahm Henrichs Hand, drückte sie an seine dünnen, faltigen Lippen und legte sie daraufhin sacht auf Melisandes schmale Finger.
Meister Henrich umfasste sie kurz, danach nahm er Raimunds Hand in beide Hände. »Seid unbesorgt, Raimund Magnus, mein Freund. Ich habe verstanden, um was Ihr mich bittet. Seid versichert, dass ich Eurer Bitte Folge leisten werde. Ich werde ein Auge auf Euren Neffen haben. Melchior ist ein kluger, fleißiger Bursche. Er wird auch ohne Euch seinen Weg gehen. Und wenn er Hilfe braucht, werde ich für ihn da sein, so wie Ihr immer für mich da wart. Verlasst Euch auf mich.«
Die Tränen liefen jetzt ungehemmt über Raimunds eingefallene Wangen. Melisande beugte sich über ihn und drückte ihr Gesicht an das seine.
»Ich glaube, es ist so weit«, sagte Meister Henrich leise und wischte sich mit einem Ärmel die Tränen aus dem Gesicht.
Melisande richtete sich auf. Gemeinsam hoben sie den mageren Körper des Henkers vom Lager und betteten ihn behutsam auf den mit Stroh ausgelegten Boden, von wo der Weg in die Unterwelt leichter zu bewältigen war. Im Flackerschein der Kerze schien Raimund hinabzuschweben wie ein welkes Blatt.
Melisande kniete sich neben den Mann, der ihr lieb war wie ein zweiter Vater. Wie gern hätte sie Raimund tröstende Worte ins Ohr geflüstert, ihm noch einmal versichert, dass er sich um sie keine Sorgen machen brauche, doch die Anwesenheit des Braumeisters ließ das nicht zu. Sanft strich sie über sein Gesicht, während Meister Henrich wieder seine Hand hielt und mit tiefer, voller Stimme ein Bußlied sang. Als er verstummte, kehrte andächtige Stille ein, nur Raimunds schwächer werdendes Röcheln war noch zu hören.
Meister Henrich zog eine Phiole aus einem Beutel und entfernte den Stöpsel.
Melisande schaute ihn fragend an.
Er lächelte.
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