Henkerin
»Wenn kein Priester anwesend sein kann, so soll der die Salbung vollziehen, der reinen Glaubens ist, damit die Seele nicht verloren geht. So hat der Herr gesprochen.«
Er ließ ein paar Tropfen Öl auf Raimunds Stirn laufen, während er die heiligen Worte flüsterte, die Melisande nur zu gut kannte. »Durch diese heilige Salbung und seine mildreichste Barmherzigkeit lasse dir der Herr nach, was immer du gesündigt hast.«
Ein Zittern ging durch Raimunds Glieder. Ein letztes Mal stöhnte er leise, dann entspannten sich seine Züge, sein Körper erschlaffte.
Melisande warf sich auf den Leichnam. »Nein, nein, verlass du mich nicht auch noch!«, wollte sie schreien. Im letzten Moment schluckte sie die Worte herunter und weinte still. Neben ihr sprach Meister Henrich ein Gebet. Sie richtete sich auf, faltete die Hände und bewegte tonlos die Lippen zu seinen Worten. Es war das gleiche Gebet, das der Priester am Sterbebett ihrer Großmutter gesprochen hatte. Wie anders war sie gestorben! Das Sterbezimmer war voller Menschen gewesen, die geklagt, gesungen und gebetet hatten, während in den Gassen von Esslingen die Totenglocke läutete. Bei der Totenwache hatten die zahllosen Gäste im Hause Wilhelmis gespeist, getrunken und fromme Lieder angestimmt. Der Tod ihrer Großmutter war ein feierliches Ereignis gewesen, an dem die ganze Stadt teilhatte.
Als Meister Henrich zu Ende gesprochen hatte, beugte er sich über den Toten und schloss ihm die Augen und den Mund. Er erhob sich und entfernte den Lumpen, den Melisande vor das winzige Fenster der Schlafkammer gehängt hatte. »Lebe wohl, Raimund Magnus«, sagte er feierlich. »Möge der Herrgott Eure Seele gnädig aufnehmen.« Er wandte sich zu Melisande. »Mein Junge, kümmerst du dich um deinen Onkel? Weißt du, was zu tun ist?«
Mit Mühe riss Melisande sich von Raimund los. Noch immer liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Stumm nickte sie.
Meister Henrich trat zu ihr und klopfte ihr auf die Schulter. »Ich nehme an, es ist dir recht, Junge, wenn ich dem Rat Bescheid gebe?«
Wieder nickte Melisande. Sie war wie gelähmt. Seit Wochen hatte sie geahnt, dass es mit Raimund zu Ende ging, doch die Vorstellung, plötzlich ohne ihn dazustehen, war ihr so fern und unwirklich vorgekommen wie ihr altes Leben als Tochter des Kaufmanns Konrad Wilhelmis. Von heute an gab es keinen einzigen Menschen mehr, für den sie Melisande Wilhelmis war, keinen einzigen Menschen, in dessen Gegenwart sie einfach sie selbst sein durfte. Von nun an war sie vollkommen allein.
***
Die Gassen von Esslingen verschluckten fast jeden Funken Licht. Vereinzelt huschten Gestalten durch die Nacht, drückten sich eng an den Hauswänden entlang, auf der Hut vor dem Nachtwächter, dem man zu dieser Stunde besser nicht in die Hände fiel, und darauf bedacht, nicht in Schlammlöcher oder Küchenabfälle zu treten, die irgendeine Magd noch rasch vor dem Schließen der Läden entsorgt hatte. Vom »Schwarzen Bären« her torkelte ein junger Mann durch die Strohgasse, der offenbar mehr als einen Becher über den Durst genossen hatte.
Der hagere Fremde, der geduldig in der Toreinfahrt eines Tuchhändlers wartete, seit es im Barfüßerkloster zur Komplet geläutet hatte, hörte ihn mehr, als dass er seine Konturen in der Dunkelheit ausmachen konnte. Er spitzte die Ohren und zückte das Messer, das man ihm zusammen mit ein paar Silbermünzen in einem Lederbeutel überreicht hatte. Zufrieden vernahm er, wie der Betrunkene sich langsam näherte. Er schien sich kaum noch auf den Beinen halten zu können. Seine Auftraggeber hatten nicht zu viel versprochen, diese Aufgabe würde ein Kinderspiel sein.
Er blickte noch einmal mit zusammengekniffenen Augen die Gasse auf und ab ins Dunkel. Es schien keine andere Menschenseele in der Nähe zu sein. Alles war still.
Der Betrunkene war jetzt auf der Höhe des Tores angekommen. Wankend blieb er stehen, beinahe so, als hätte er etwas gehört. Auf diese kurze Entfernung war er für den Mann, der in der Nische lauerte, recht gut zu erkennen, was allerdings bedeutete, dass es auch für den umgekehrten Fall zutraf. Sicherheitshalber presste sich der Fremde eng an das Tor und hielt die Luft an.
Einen Augenblick lang war alles still, dann taumelte der Betrunkene auf die Hauswand zu, stützte sich ab und erbrach sich geräuschvoll.
Der Fremde stieß erleichtert die Luft aus und legte seine Finger fester um das Messer. Es war so weit. Er wartete ab, bis der Betrunkene sich
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