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Henkerin

Titel: Henkerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Martin
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wieder befragte? Ihm war vor Angst speiübel geworden, als das stumme Männlein ihm seine Gerätschaften vorgeführt hatte. Was für ein seltsamer Bursche dieser Henker war! So dünn und zart, beinahe wie ein Weib, und doch so kühn, dass er sich mit einem mächtigen Grafen wie de Bruce im Wald traf, um ihm seine Kunst beizubringen. Da lag etwas in den Augen des Henkers, etwas seltsam Wissendes, so als sähe er Dinge, die andere nicht sahen. Sagte man nicht von allen Henkern, dass ihr Blick nicht von dieser Welt sei? Dass sie damit sogar töten konnten? Wendel glaubte diesen Unfug eigentlich nicht. Doch diesen Henker umgab eine seltsame Aura, dieser Mann schien ein Geheimnis zu hüten, das Wendel gerne gelüftet hätte.
    Wendel befiel ein Verdacht, und er setzte sich so abrupt auf, dass der junge Bursche mit dem Kratzen innehielt und ihn neugierig musterte. Doch Wendel beachtete ihn nicht. Seine Vermutung war so ungeheuerlich, dass er kaum wagte, sie zu Ende zu denken: Der Henker war dem Grafen nicht nur für Unterweisungen im Schwertkampf zu Diensten, sondern steckte auch bei anderen dunklen Geschäften mit ihm unter einer Decke! Das erklärte auch, weshalb der Henker zwar von seiner Unschuld wusste, dieses Wissen jedoch für sich behielt.
    Wendel zog den Umhang fester um seine Schultern, als könne er ihn vor der Kälte schützen, die ihm in die Seele kroch. Er hatte oft genug gehört, dass de Bruce ein Mann mit vielen Gesichtern war, den man besser zum Freund als zum Feind hatte, und dass der Graf bei der Durchsetzung seiner Interessen auch auf wenig ehrbare Methoden zurückgriff, sich mit allerhand finsterem Gesindel umgab. Bisher hatte Wendel sich um diese Gerüchte nicht geschert. Ihm gegenüber hatte sich der Graf immer tadellos verhalten, und Wendel war nicht gewillt, einen Mann allein aufgrund übler Nachrede zu verurteilen. Doch wenn zutraf, was man über Ottmar de Bruce in den Straßen raunte, dann wäre es durchaus möglich, dass nicht nur Raubritter und Betrüger, sondern auch der Henker der Reichsstadt Esslingen zu seinen bezahlten Handlangern zählten.
    Wendel biss sich auf die Lippe. Er war auf de Bruce’ Burg gewesen, als ihm das Messer abhandengekommen war. Nicht nur einer der zahlreichen Gäste, sondern auch der Burgherr selbst hätte sich daran vergreifen können. Doch zu welchem Zweck? Um ihm diesen Mord unterzuschieben? Warum? Immer wieder murmelte er das Wort vor sich hin. Warum? Warum? Womit hatte er, der unbedeutende Karcher Wendel Füger aus Reutlingen, sich diesen mächtigen Mann zum Todfeind gemacht?
***
    Melisande legte den Kanten Brot zur Seite und betrachtete nachdenklich die Gegenstände, die sie auf dem Strohsack ausgebreitet hatte, der ihr als Schlaflager diente: das zerrissene Bauernkleid, das sie an jenem grauenvollen Tag vor fünf Jahren getragen hatte, das schlichte, aber wunderschöne blaue Gewand, das sie nur heimlich trug. Das Buch mit den Geschichten über den Ritter Gawan, das Kruzifix, das Fläschchen Rosenöl, das sie an ihre Mutter erinnerte. Die Bögen Pergament mit den verbotenen Bibeltexten in deutscher Sprache, die Meister Henrich gehörten und aus denen sie Raimund so oft vorgelesen hatte. Der Beutel mit den Münzen, den sie während der Schlacht an sich genommen hatte. Bis heute hatte sie ihn nicht angerührt.
    Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, doch sosehr sie auch darüber nachgegrübelt hatte, ihr war kein Ausweg aus ihrer misslichen Lage eingefallen. Keiner zumindest, bei dem sie in Esslingen verweilen und alles beim Alten belassen konnte. Sie saß in der Falle. Bald würde der Rat über sie zu Gericht sitzen und sie für den Tod der Magd bestrafen. Dabei würde ihre Tarnung fallen, es sei denn, sie verschaffte Konrad Sempach, was er von ihr verlangte. Doch selbst wenn sie ihr Gewissen und ihre Abscheu überwand und ihm die Mädchen zuführte, nach denen es ihn gelüstete, begab sie sich so sehr in seine Hände, dass ihr Schicksal erst recht besiegelt war. Er würde ihr mit immer neuen Forderungen das Leben zur Hölle machen, und wenn sie auch nur eine davon nicht erfüllte, würde er sie ohne Zögern dem Rat ausliefern.
    Melisande strich mit den Fingerspitzen über das blaue Gewand. Am liebsten würde sie es überstreifen und einfach durch das Heiligkreuztor die Stadt verlassen. Jetzt gleich, ohne weiteres Zaudern. Niemand würde sie aufhalten, denn niemand würde sie erkennen.
    Doch etwas hielt sie zurück. Ein Gefühl, ein Gedanke, der ihr keine Ruhe

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