Henkerin
ließ. Was für ein teuflisches Spiel spielte man mit dem Karcher aus Reutlingen? Und wer steckte dahinter? Wendel Füger war unschuldig, sollte für das Verbrechen eines anderen gefoltert und hingerichtet werden. Und zwar nicht mit dem Schwert. Dem Karcher drohte das Rädern, eine der furchtbarsten Todesarten, die sich Melisande vorstellen konnte. Und das von ihrer Hand. Nie zuvor hatte ihr Handwerk auf diese Weise ihrem Gewissen zugesetzt. Genugtuung oder gar Freude hatte es ihr nie bereitet, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen oder ihnen das Leben zu nehmen. Doch immerhin war bisher keiner darunter gewesen, der seine Strafe nicht verdient hatte. Sie alle hatten gesündigt, waren Gesetzesbrecher gewesen, Diebe oder Mörder.
Diesmal war es anders. Sie wusste, dass der Karcher niemals einen Menschen auf diese Weise hätte töten können. Sicherlich stimmte seine Behauptung, dass man ihm das Messer gestohlen hatte, um ihn der Tat zu bezichtigen. Dennoch würden die Richter nicht eher Ruhe geben, bis Melchior ein Geständnis aus dem Kerl gepresst hatte. Für die Mächtigen war die Sache eindeutig: Benedikt Rengert und der Karcher aus Reutlingen hatten Streit gehabt, dafür gab es jede Menge Zeugen. In der darauffolgenden Nacht wurde Rengert erstochen und das Messer des Karchers bei seiner Leiche gefunden. Alles, was fehlte, um den feigen Mörder hinrichten zu können, war sein Geständnis. Und das würden sie bekommen.
Melisande sank auf die Knie. »Herr, hilf mir in dieser Stunde größter Not, so wie du mir immer geholfen hast!«, flehte sie. »Da ich noch lebe, wirst du Pläne mit mir haben, wird mein Schicksal noch nicht erfüllt sein. Soll ich den Karcher retten vor einem ungerechten Richterspruch, ihm aus der Stadt helfen? Oder soll ich lieber mich selbst in Sicherheit bringen?«
Sie senkte den Kopf, schloss die Augen, hielt ihre gefalteten Hände in die Höhe und verharrte regungslos. Rechts von ihr raschelte es. Ohne sich zu bewegen, öffnete sie die Augen. Eine Maus flitzte über den Boden, hielt immer wieder inne, schnupperte, flitzte weiter, sprang hinauf auf den Strohsack und versteckte sich unter dem blauen Kleid.
Eine Weile sah Melisande nur eine zitternde Wölbung unter dem Stoff. Ihre Arme wurden taub, ihr ganzer Körper begann zu schmerzen, doch sie zwang sich, weiterhin reglos auf dem Boden zu knien. Endlich bewegte sich etwas unter dem Kleid, und im gleichen Moment stob die Maus wie ein grauer Blitz auf das Brot zu, stellte sich auf die Hinterbeine, schlug ihre Zähne in das Brot, biss ein Bröckchen ab und verschwand mit ihrer Beute wieder unter dem Kleid. Diesmal verharrte sie jedoch nicht, sondern kam sogleich auf der anderen Seite wieder hervor und machte es sich auf dem Kruzifix bequem. Genüsslich verspeiste sie den Brotkrumen, drehte ihn immer wieder in ihren Pfoten. Schließlich leckte sie sich den Pelz, ließ sich auf alle viere fallen, krabbelte vom Strohsack hinunter und verschwand in einer Mauerritze.
Melisande ließ die Arme sinken, erhob sich und rieb sich die schmerzenden Knie. Das war das Zeichen. Sie selbst war die Maus, das Kruzifix, das vor ihr im fahlen Licht blinkte, stand für den göttlichen Willen, Nächstenliebe zu üben, also den Karcher zu retten. Das Brot stand für ihr leibliches Wohl, die sofortige Flucht aus Esslingen. Das Zeichen war eindeutig: Sie musste sich selbst retten, aber vorher den Karcher befreien.
***
Über dem Gerichtssaal lag das Gemurmel aufgeregter Stimmen wie das Summen der Bienen um einen Bienenstock. Ein halbes Dutzend Männer standen zusammen und debattierten in verhaltenem Ton. Henner Langkoop und Enders von den Fildern tuschelten mit Gerold von Türkheim, einem dürren weißhaarigen Mann, der sich trotz seines hohen Alters aufrechter hielt als mancher Jüngling. Er war das Oberhaupt einer der einflussreichsten Patrizierfamilien in Esslingen. Im Gerichtssaal befanden sich außer den dreien auch Karl Schedel, Zunftmeister der Kürschner, sowie Waldemar Guirrili, der Zunftmeister der Schneider, die hier in Esslingen gutes Ansehen besaßen.
Konrad Sempach stand etwas abseits, beobachtete die anderen und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe. Er hatte beschlossen, sich im Hintergrund zu halten und zunächst abzuwarten, wie sich die Stimmung im Rat darstellte.
Das Gemurmel verstummte schlagartig, als der Schultheiß Johann Remser durch die Tür trat. »Seid gegrüßt, werte Herren«, rief er, noch bevor er seinen Platz am Richtertisch
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