Henkersmahl
fluchte. Ausgerechnet jetzt fand er ein Foto, das ihn eventuell auf die Spur seines Vaters brachte. Einen unpassenderen Moment hierfür hätte er sich im Leben nicht vorstellen können.
Warum hatte Max ihm das Foto nie gezeigt? Er hatte doch gewusst, dass Florian für jeden Hinweis auf seinen Vater dankbar war. Er spürte, wie Wut über den Freund in ihm aufstieg, aber er versuchte, sie zu unterdrücken, denn Max konnte schließlich keine Stellung mehr beziehen. Florian kam zu dem Schluss, dass der Mann auf dem Foto irgendein Mann war, jedenfalls nicht sein Vater, und deswegen hatte Max es auch nicht für nötig gehalten, ihm das Foto zu zeigen. Als er es gerade wieder zurück zu den Papieren legen wollte, überlegte er es sich anders und steckte das Foto kurzerhand ein. Plötzlich kamen ihm Tränen. Wie unvorstellbar war der Gedanke, dass er nie wieder mit Max lachen, nie wieder mit ihm reden, nie wieder in seine Augen blicken würde. An diesem Tisch hatte Max bis vor Kurzem noch gesessen, Max’ Hände hatten das Holz berührt wie jetzt seine. Florian schloss die Augen. Die Vorstellung, dass das Aussprechen von Max’ Namen fortan die vergebliche Beschwörung eines Bildes wäre, das sich irgendwann heimlich davonstehlen würde, verursachte ihm körperliche Schmerzen. Er sah Max’ Sommersprossen vor sich, roch den modrigen Duft seiner alten zerschlissenen Lederjacke, hörte den kehligen Ton seiner Stimme und er spürte den Hauch einer Berührung. Wann hatte er eigentlich das letzte Mal geweint? Es musste Jahre her sein. Selbst, als Katharina ihn verlassen hatte, hatte er keine Träne vergossen.
Florian schnäuzte in sein Taschentuch und konzentrierte sich wieder auf den Computer. Er wollte noch einen Blick in Max’ Posteingang werfen. Die meisten Mails waren belanglos, wie er feststellte, aber eine mit dem Absender sportmaster.com erweckte schlagartig seine Aufmerksamkeit. Jemand, der sich als Verehrer von Max’ Sendungen vorstellte, bot ihm Insiderinformationen über Jugendbanden in NRW, insbesondere aus Köln, an. Er schrieb, dass er zu Garcia Marquez intensiven Kontakt habe, und über Alex Weyer, ebenfalls Boss einer Bickendorfer Gang, wisse er einiges, was Max mit Sicherheit interessieren würde. Er habe Informationen über einen geplanten Drogendeal. Im Gegenzug erwarte er allerdings die Möglichkeit, an der einen oder anderen Sendung mitzuarbeiten. Er freue sich sehr auf Max’ Rückmeldung und die künftige Zusammenarbeit.
Dreister Typ, dachte Florian. Seine Augen glitten an das Ende der E-Mail, und als sie gefunden hatten, wonach sie suchten, hielt er unwillkürlich die Luft an. In den letzten Zeilen stand es schwarz auf weiß:
›Mit freundlichen Grüßen
Peter Mallmann‹
14
Wieder in seiner eigenen Wohnung, steuerte Florian zielstrebig das Schlafzimmer an, ließ sich auf sein Bett fallen und schlief binnen kurzer Zeit ein.
Irgendwann schreckte er hoch und war verwirrt, doch er registrierte, dass die Sirenen eines Krankenwagens, die sich langsam entfernten, ihn aufgeweckt haben mussten. Es war dunkel. Florian benötigte einen Augenblick, bis ihm klar wurde, wo er sich befand. Die Zeiger des kleinen Weckers, der auf dem Holzfußboden vor seinem Bett stand, zeigten kurz nach neun. Es musste neun Uhr abends sein! Florian knipste die Lampe an und sprang auf, er hatte eine Verabredung und musste sich beeilen, wenn er nicht allzu spät kommen wollte.
Er griff seinen Mantel, den er einfach vor dem Bett hatte fallen lassen, und hastete durch den für Altbauwohnungen so typisch schmalen Flur hin zur Haustür.
Auf der Straße gab es nur noch mäßigen Verkehr, und um die Dauerbaustelle Chlodwigplatz herum waren nur wenige Fußgänger unterwegs. Seit Jahren wurde hier ein Teil der neuen Stadtbahn gebaut, die die südlichen Stadtteile mit der Innenstadt und dem Hauptbahnhof verbinden sollte, aber irgendwie schien es mit den Bauarbeiten einfach nicht voranzugehen. Tagsüber herrschte am Kreisverkehr inmitten von Absperrungen und Baggern das reinste Verkehrschaos. In Gedanken daran, was Köln sich seit Jahren an Fehlplanungen und Bausünden leistete, musste Florian unwillkürlich den Kopf schütteln. Er dachte an die jahrelangen Bauarbeiten auf der Rheinuferstraße, die jeden Autofahrer an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten, und an den schiefen Kirchturm in der Severinstraße, der aufgrund eines Statik-Rechenfehlers ein beinahe so schräges Bild bot wie der schiefe Turm von Pisa. Auch
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