Henkersmahl
eingegangen. Die hellgraue Hemdbluse, die Marianne trug, ließ ihr eckiges, kleines Gesicht noch fahler aussehen als sonst, und ihr blondgraues Haar hing strähnig herab.
Florian blieb. Einerseits tat Marianne ihm leid, andererseits wollte er nicht unvermittelt mit der Tür ins Haus fallen und sofort nach Max’ Wohnungsschlüssel fragen. Er hoffte, dass Marianne im Besitz eines Zweitschlüssels war.
»Der Pastor war vorhin hier. Die Trauerfeier findet übernächsten Donnerstag statt«, unterbrach Marianne seine Gedanken und schnäuzte in ihr Taschentuch. »Vorausgesetzt, Max’ Leichnam wird bis dahin freigegeben. Ich kann es einfach nicht fassen.«
Florian nahm Marianne in den Arm und streichelte unbeholfen über ihren Rücken. »Ja, es ist unvorstellbar.«
Er dachte nach. Bis zur Beerdigung waren es neun Tage. »Was sagen die Ärzte? Gibt es etwas Neues?«
»Sie vermuten Herzversagen durch extreme körperliche Belastung, das hat aber auch der Notarzt gestern Abend schon vermutet. Der Staatsanwalt wurde informiert, und ich schätze, er hat bereits eine Obduktion angeordnet.« Marianne Kilian griff erneut zu ihrem Taschentuch. »Kannst du dir Herzversagen als Todesursache vorstellen?«
»Ich weiß nicht.«
»Möglich wäre es. Max hat so viel gearbeitet. Zu viel gearbeitet. Ich habe ihm oft gesagt, er müsse mehr auf sich achten, mal eine Pause machen, aber er hat nicht auf mich gehört.«
»Gestern morgen in der Redaktion hat er tatsächlich fast schlapp gemacht«, sagte Florian nachdenklich.
Marianne sah ihn prüfend an. »Du glaubst nicht an einen natürlichen Tod, habe ich recht?«
Ihre tief liegenden Augen und ihr blasses Gesicht rührten Florian so sehr, dass er es nicht übers Herz brachte, zu nicken. Beide schwiegen einen Moment.
»Glaubst du, dass Max in gefährliche Recherchen verwickelt war?«
»Vielleicht«, sagte Florian vorsichtig. »Sicher wäre es hilfreich, wenn ich mir Max’ Handy einmal ansehen könnte. Hast du eine Ahnung, wo es ist?«
Marianne nickte. Sie machte sich daran, in Max’ Sporttasche, die ihr die Schwestern im Krankenhaus ausgehändigt hatten, nach seinem Handy zu suchen.
Florian seufzte erleichtert. Während Marianne mit der Suche beschäftigt war, fiel sein Blick auf ein Ölbild, das er noch nie zuvor in ihrer Wohnung gesehen hatte. Er fand es schön, sehr schön sogar. Das Bild bestand aus Unmengen von Farbklecksen und sollte vermutlich einen Blumenstrauß darstellen. Je länger Florian das Bild betrachtete, desto stärker nahm es ihn gefangen, und je länger er darauf starrte, desto stärker begannen die Farben vor seinen Augen hin und her zu tanzen, so intensiv, dass sie gänzlich miteinander zu verschmelzen schienen und zu einem einzigen großen Farbfleck wurden. Florian überkam plötzlich ein heftiger Schwindel.
»Florian? Florian!« Mariannes Finger, die sich in seine Achselhöhlen bohrten, verursachten ihm Schmerzen. Sie bemühte sich darum, den Fall seines schweren Körpers aufzuhalten, doch vergeblich.
Er glitt auf den Boden. Ihre Stimme drang laut an sein Ohr, dann nahm er einen dumpfen Aufprall wahr. Sein Kopf sank auf den Teppich. Plötzlich wurde Florian bewusst, dass er sich dem hypnotischen Zustand, in dem er sich befand, mit aller Kraft entziehen musste, sonst würde er gleich das Bewusstsein verlieren. Er schluckte und öffnete unter großer Anstrengung die Augen. Über sich sah er Mariannes erschrockenes Gesicht.
»Florian, du wärst beinahe ohnmächtig geworden. Was ist los? Geht es wieder?« Sie half ihm auf und führte ihn behutsam in die Zimmerecke zu einem Sessel, in dem er vorsichtig Platz nahm, dann verschwand sie rasch in der Küche.
Florian versuchte, den letzten Rest Benommenheit abzuschütteln und schlug sich mit der flachen Hand ins Gesicht. Seine Lebensgeister kehrten langsam zurück und ihm kam sein Besuch im Sportstudio wieder in den Sinn. Im Hintergrund hörte er Marianne in der Küche hantieren. Dass Max sich wie ein Pennäler Brot eingepackt haben sollte, hielt er im Grunde genommen für unwahrscheinlich. Naheliegender war, dass der Unbekannte Max das Brot angeboten hatte. War er der unbekannte Anrufer, der die Sendung verhindern wollte?
Florians Überlegungen wurden von Marianne gestört, die mit einem aufmunternden Lächeln im Gesicht und einem Tablett in den Händen zurückkehrte, auf dem sich ein großes Glas frisch gepresster Orangensaft sowie mehrere dekorativ verzierte Schnittchen befanden.
»Trink«, befahl sie
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