Henkersmahl
warum Mütter auf dem Anrufbeantworter immer die allerwichtigsten Nachrichten hinterließen. Auf einmal spürte er, dass sein rechter oberer Backenzahn wieder anfing, zu schmerzen. Es war also wieder so weit. Immer, wenn er gestresst war, meldete sich sein Zahn. Das hatte bereits in der Pubertät angefangen.
Er seufzte. Ein Anruf noch, und der würde vermutlich genauso belanglos sein wie die vorherigen.
Florian entschloss sich missmutig, kurz zu unterbrechen und in der Küche nachzuschauen, ob sich hier etwas Brauchbares zu essen finden würde. Bei der Gelegenheit könnte er auch den Inhalt des Kühlschranks genau inspizieren.
Max’ Küche war zweckmäßig eingerichtet. Es gab keine dekorativen Objekte wie in Florians Küche, wo eine alte italienische Espressomaschine die Aufmerksamkeit seiner Gäste auf sich zog und ein Kunstdruck mit einem roten Tulpenstrauß zwischen zwei Espressotassen Farbe und Stimmung in den Raum brachte.
Florian öffnete die Kühlschranktür und sah resigniert lediglich gähnende Leere. Außer einem Glas Oliven, süßem Senf, den er verabscheute und für eine bayerische Geschmacksverirrung hielt, zwei Eiern, diversen Flaschen Kölsch und ein paar Scheiben vertrocknetem Toastbrot war hier nichts zu holen. Fehlanzeige. Kein Indiz für ein Produkt, das auf der roten Liste stand. In der Seitentür des Kühlschranks klemmte eine halbvolle Flasche Milch. Er registrierte, dass sie 3,5 Prozent Fett enthielt. Zu viel. Trotzdem schraubte er den Deckel ab, roch daran, setzte die Flasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Seit er von Max’ Tod erfahren hatte, hatte er kaum etwas gegessen, vielleicht war er auch deswegen vorhin bei Marianne fast umgekippt. Er griff sich aus dem Regal ein Glas und schenkte den Rest Milch bis auf den letzten Tropfen randvoll ein. Vorsichtig schlürfte er etwas von der Flüssigkeit ab und ging, das Glas behutsam in der Hand haltend, langsam zurück über den schmalen Flur ins Wohnzimmer.
Er setzte sich auf die Fensterbank und drückte auf die Taste des Anrufbeantworters.
Eine Männerstimme. Mit übertriebener Freundlichkeit wünschte sie Max einen abwechslungsreichen Abend. Florian hielt die Luft an. Der Mann sagte, er habe sich eine kleine Überraschung für Max ausgedacht, etwas ganz Besonderes, aber nur, wenn die Sendung über die mysteriösen Krankheitsfälle nicht stattfinden würde, dann erhalte er einen netten Präsentkorb.
Es machte Klick und der Anrufbeantworter verstummte.
Florian saß bewegungslos da, die Stille des Raumes lastete schwer auf ihm. Das muss ich noch mal hören, dachte er und drückte auf die Wiederholungstaste. Kein Zweifel, da sprach derselbe Mann, der ihn und vermutlich auch Max bereits gestern angerufen hatte.
Florian überlegte, was die Anspielung mit dem Präsentkorb bedeuten sollte. Nirgendwo in der Wohnung hatte er einen Korb entdeckt. Vielleicht hatte ihn der Einbrecher mitgenommen? Es wäre gut zu wissen, wann der Anruf aufgezeichnet worden war. Vor oder nach Max’ Tod?
Florian ging mit raschen Schritten ins Arbeitszimmer und wühlte wie zuvor der Einbrecher im Inhalt der Schubladen, aber er fand nichts von Bedeutung. Da er Max’ Passwort kannte, gelang es ihm mühelos, seinen Computer hochzufahren. Rasch zog er alle Dateien, die Max in den letzten vier Wochen bearbeitet hatte, auf seinen USB-Stick. Ob der Einbrecher sich ebenfalls Zugang zu Max’ Daten verschafft hatte, vermochte Florian nicht zu sagen. Während er darüber nachsann, fiel sein Blick auf ein Foto, das zwischen anderen Papieren auf dem Fußboden lag. Er hob es auf. Zwei Frauen und zwei Männer saßen um einen Gartentisch herum und tranken Bowle. Bis auf eine Person erkannte Florian sie alle wieder. Das waren unverwechselbar Marianne, ihr verstorbener Mann und seine Mutter. Marianne hatte Max auf dem Schoß, er musste damals vielleicht ein halbes Jahr alt gewesen sein. Denjenigen jedoch, dem seine Mutter vertraut und doch auch lasziv den Arm um die Schulter legte, hatte Florian noch nie zuvor gesehen. Er sah ziemlich attraktiv aus. Florian rechnete zurück. Die Aufnahme musste im Sommer 1972 gemacht worden sein. Max war im Januar 1972 auf die Welt gekommen, er war genau ein Jahr und drei Monate älter als er. Florian war im April 1973 geboren worden. Demnach müsste seine Mutter ungefähr zum Zeitpunkt der Aufnahme schwanger gewesen sein. Florian sah genauer hin, und auf einmal hatte er den Eindruck, als ähnele die Nase des Mannes seiner eigenen. Er
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