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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Brühl
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fragt Isabell.
    «Scheiße!», sagt Lars. Sie bleiben stehen und sagen nichts für eine kleine Zeit.
    «Ich muss los!», sagt Lars und geht ab. «Wo hast du?», fragt Isa.
    «A 7», nennt Henning die Raumnummer.
    «Ich A 19.» Sie gehen nebeneinander her. Dann stehen sie vor A 7. «Das ist ja schrecklich!», sagt Isabell leise. Es klingt sehr echt. Hennings Lippen zittern kurz, dann hängt er an ihrem Hals und heult wie ein Schlosshund. Isa legt ihre Arme beruhigend um ihn. Henning heult. Aus dem Bauch ist die erste Welle nach oben geschwappt, Wellenschläge von Schluchzen gehen durch seinen Kör per. Hennings Kopf liegt an ihrem Hals. Rotze, Speichel und Tränen landen in ihrem Ausschnitt. Sie streichelt sei nen Rücken. «Hör bitte auf zu weinen!», sagt Isa hilflos. Henning muss heulen.
    Eine zweite Sintflut wird Henningstadt unter Wasser setzen. Vom Astronomischen Zentrum der Uni auf der höchsten Erhebung der Gegend wird man dann, wenn die Linsen, Okulare und Objektive nicht vom Salzwasser verdorben sind, einen zweiten Regenbogen sehen, Zei chen für den dritten Bund.
    Henning beruhigt sich. Er holt tief Atem. Erst stottern die Atemzüge noch, dann kann er wieder ruhig atmen. Das Schluchzen ist vorbei. Isa und Henning stehen sich gegenüber und sehen sich an.
    «Ich weiß auch nicht», sagt Henning, «warum ich so heulen muss.» Es ist ihm peinlich. «Mir ist nichts pas siert», unwillkürlich geht der Atem noch mal tief durch. Hennings Brustkorb hebt sich und senkt sich.
    Henning hört sich die nächste Unterrichtstunde an. Es geht ihm so was von am Arsch vorbei, was da für Platti tüden über schleimige Gedichte aus der Romantik vom Stapel gelassen werden. Er fühlt sich, als wäre sein In ners tes nach außen gestülpt. Anne findet den Brunnen ein tiefes Symbol. Der Deutschlehrer nickt. Henning steht auf und verlässt wortlos den Raum.
    Sein Knie hat angefangen, weh zu tun. Auf dem Nach hauseweg nimmt der Schmerz zu und Henning denkt, dass er besser zum Arzt geht. Knie sind empfindlich und besser ist besser. Henning fühlt sich leer, das Denken geht langsam. Zwei, drei Mal muss er stehen bleiben, atmen und sich fassen. Ein paar Tränen rollen ihm die Backen runter. Es hat ihm keiner geholfen. Das war das Schlim me. Gerstenberger hat ihn gesehen. Es waren Tausende von Leuten im Foyer. Sie haben um ihn rum gestanden. Er versteht nicht, wie das sein kann. Keiner hat eingegrif fen. Die Jungs hätten sonst was mit ihm machen können.
    Zum Arzt dringt er erst gar nicht vor. Weil er keinen Termin hat, erklärt er der Sprechstundenhilfe, dass ihn ei ner in der Schule getreten hat, dass es erst nicht so, inzwi schen aber sehr weh tut. «Also ein Schulunfall», diagnos ti ziert die Sprechstundenhilfe berufserfahren und schickt ihn fort. Er soll zum Krankenhaus gehen. Zur Notaufnah me. «Aber ich kann fast nicht laufen. Es tut weh.»
    «Wir dürfen Sie nicht behandeln!», sagt die Dame, und Henning ist so schockiert, dass er von dem, der im Gegen satz zu Gerstenberger dafür bezahlt wird, keine Hilfe krie gen soll, dass er sich ohne jeden Kommentar umdreht und loshumpelt.
    Die Schmerzen werden immer schlimmer. Im Kran ken haus geht es dann einigermaßen schnell — nachdem die Daten aufgenommen sind. Das Geburtsjahr seines Vaters weiß er nicht. Damit er nicht wieder weggeschickt wird, erfindet er eines.
    «Ja, ja, Prellungen fangen erst nach einer Weile an, weh zu tun», sagt der Arzt und schreibt eine Salbe auf. Hat dann aber doch noch die Zeit, die Beweglichkeit und die Reflexe zu kontrollieren, und es ist wirklich nur eine Prel lung. «Da werden Sie noch eine Weile Freude dran ha ben!», sagt der Arzt und weiß nicht, wie Recht er hat. Noch heute denkt Henning an diesen Tag voller Freude. Wenn er nicht gestorben ist.
    Henning beschließt, sich zum Trost was Nettes zu kau fen. Er geht in den Buchladen, es ist grad einer an seinem Weg.
    Dann steht er vor einem Regal und fängt wieder an zu heulen. Er fasst sich. Die Buchhändlerin ist der Typ Theo logiestudentin mit kurzem Haar.
    «Was ist denn?», fragt sie in mitfühlendem Ton, als er an der Kasse steht. Henning, der immer noch aufgelöst ist, kommt nicht weiter als «Weil ich schwul bin —», und muss seinen Atem halten und loslassen, damit er nicht wieder aufschluchzt. Die Buchhändlerin sagt: «Aber das ist doch nicht schlimm.» Und sieht ihn fragend an. «Ja», antwortet Henning, und es ist alles gesagt.
     
     
     
    60
     
    «Rosi, wir müssen ihn einfach

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