Henningstadt
mit je man dem darüber sprechen. Mit Steffen. Jeder hätte Lars gesagt, wo der Park ist, der Sexfriedhof. Er muss Steffen se hen. Jedenfalls kann er nicht in dieser Wohnung blei ben. Es ist Freitag, und morgen hat er frei.
Immer war es blöd, dass er oder Steffen abends nach Hause mussten. Er will fragen, ob er bei ihm übernachten kann. Schließlich ist es kein Problem, wenn er bei einem aus seiner Klasse übernachten will, oder wenn zum Bei spiel Lars hier pennt. Das Einzige ist, dass Steffen eben so viel älter ist als er. Seine Eltern sind irgendwie misstrau isch gegenüber Steffen. Sie wissen nicht so genau, was der eigentlich von ihrem Sohn will. Sie finden ihn aber auch nicht unsympathisch. Es ist vielleicht ungewöhnlich, aber wa rum soll Henning nicht mit jemand Älterem befreun det sein?
Also los!
«Mama, kann ich heute bei Steffen übernachten?»
«Warum?», fragt seine Mutter.
«Na, wir wollen noch was spät im Fernsehen gucken, und es ist immer so blöd mit dem Nachhausekommen. Steffen kann schließlich nicht immer ein Taxi bezahlen: Das ist euch doch auch nicht recht!» Das ist ihnen in der Tat nicht recht.
«Will Steffen, dass du bei ihm übernachtest?», fragt die Mutter misstrauisch. Henning findet die Frage nicht ganz eindeutig.
«Steffen findet es bestimmt eine gute Idee. Ich ruf gleich an und verabrede mich mit ihm.»
«Ich denke, ihr seid schon verabredet.»
«Na ja, wir haben ’ s halt noch nicht genau ausge macht.»
«Ihr könnt doch auch hier fernsehen. Bei uns zu Hau se.»
«Das ist nett. Aber dann können wir nicht lachen, weil ihr euch beschwert.»
«Ich frag mal Arnold, was er dazu meint.» Henning zieht ab, damit sie Arnold fragen kann. Henning hat kein gutes Gefühl.
«Henning! Kommst du mal bitte ins Wohnzimmer!», ruft seine Mutter nach drei Minuten.
Henning geht also ins Wohnzimmer. Seine Eltern kom men aus der Küche ins Wohnzimmer. Sie versammeln sich im Halbkreis um ihn. Sein Vater macht das Fenster zu.
«Also», beginnt seine Mutter. «Wir wollen dich fragen — wir haben — denken, dass der Steffen ein Homosexu el ler ist.»
Henning schaut zu Boden und schluckt. Irgendwann muss er es ihnen sowieso sagen. Warum also nicht jetzt? Hundert Gründe sprechen dagegen.
«Ist das so?», fragt seine Mutter.
«Na ja, kann sein — ist doch auch egal.»
«Das ist ja nun überhaupt nicht egal!», sagt seine Mut ter.
Sein Vater sagt gar nichts. Er sieht besorgt aus. Aber ruhig.
«Und bist du auch so?», fragt Rosi. Arnold hat ihr ge sagt, sie soll auf alle Fälle ruhig bleiben. Das findet sie auch. Eine Szene nützt keinem. Sie wird auf jeden Fall ru hig bleiben. Konzentriert sieht sie also Henning an. Er soll nicht lügen. Sie hält sich mit ihren Blicken an ihm fest.
«Und bist du auch so?», fragt seine Mutter.
«Ja», sagt Henning.
Ihr läuft eine Träne die Wange runter. Ihr Gesicht ist verzerrt. Arnold atmet hörbar ein. Henning ist traurig, dass er seine Mutter weinen macht. Er hasst Schwul-Sein: wie nichts Zweites auf der Welt.
Er sieht seine Mutter an. Er sieht seinen Vater an.
«Aber ich bin der Gleiche wie vorher. Und ich habe euch lieb.»
«Ja!», sagt Rosi leise. Das war ein Friedensangebot, sie nimmt es an. Henning hat von Eltern gehört, die anfangen wild rumzutoben und ihren Sohn rausschmeißen. Das wer den seine jedenfalls nicht machen.
«Ja», sagt sein Vater. «Das wissen wir.»
Er hat seine Eltern noch nie so niedergeschlagen gese hen. Sein Vater zerquetscht ein Tränchen im Auge, seiner Mutter kullern die Tränen die Wangen runter. Zuletzt ha ben sie geweint, als seine Großmutter gestorben ist. Da hat Henning auch geweint.
Er ist froh, dass es raus ist. Wenn es nicht traurig wäre, dass Rosi und Arnold weinen müssen, würde er jetzt tan zen. Er ist total erleichtert. Erleichtert und frei.
Seine Mutter will wissen, wie er Steffen wirklich ken nen gelernt hat. Ob Steffen ihn schwul gemacht hat, scheint hinter der Frage zu stecken. Henning beantwortet sie entsprechend deutlich, damit sich der Zorn seiner El tern nicht gegen seinen Freund richtet.
Dann sitzt ein dickes ekliges Schweigen im Wohnzim mer. Die Mutter ist beherrscht. Alle sind gefasst, die Grä ber der Heiligen könnten sich auftun, jemand könnte schnell sieben Mal auf seiner verrosteten Posaune tuten, und das Ende der Welt träfe die Staigers in bewunde rungs würdiger Gelassenheit starr auf ihren Sesseln sit zend. Nur das Schweigen rennt verzweifelt im Zimmer rum und ist so
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