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Henningstadt

Henningstadt

Titel: Henningstadt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Brühl
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schmeckt bitter.
    «Lass den Kopf nicht hängen!», sagt Isabell. «Wir wer den das Kind schon schaukeln!»
    «Das sind doch Sprüche!», ruft Henning im tiefen Ton theatralischer Entrüstung, lacht aber wieder. Henning ist beliebt bei allen Leuten, aber zu tun hat er nur mit weni gen in der Schule. Warum sollen sie ihn jetzt lieben, wo er schwul ist? Vorher hat er die meisten bekloppt gefunden. Warum sollte ihm deren Meinung jetzt auf einmal so wich tig sein? Das ist doch albern, denkt er. Aber es ist ihm wichtig, was die Leute von ihm denken. Vor allem will er wissen, was. Sie glotzen. Und was denken sie da bei?
     
     
     
    62
     
    Isa ruft Henning an. Sie spricht ganz langsam, als müs se sie nach Worten suchen:
    «Henning. Lars ist — » Sie schluchzt auf. «Lars ist im Kran kenhaus. Er ist niedergeschlagen worden! Gestern. Nachts wahrscheinlich. Wahrscheinlich gestern Nacht. Auf dem Friedhof der Mariengemeinde haben sie ihn ge fun den.»
    Henning versteinert. «Was!», sagt er. «Das ist ja furcht bar! — Wie geht ’ s ihm denn? Ist es schlimm?»
    «Ja!»
    Henning wartet, bis Isa sprechen kann. Man hört, dass sie mit den Tränen kämpft.
    «Ja, er ist noch in Lebensgefahr. Er hat da stundenlang bewusstlos gelegen. Sie haben ihn erst heute Morgen ge fun den. Das ist wohl das Hauptproblem. Und jetzt ist er immer noch nicht bei Bewusstsein. Die Ärzte sagen, sie wissen nicht, wann er wieder aufwacht. Und ob er über haupt —»
    Manchmal bleiben Leute bewusstlos. Henning und Isa denken an die Gruselgeschichten mit Apparaten, die nach soundso viel Zeit abgestellt werden müssen.
    Henning kann es kaum glauben. «Wir haben ihn doch gestern noch getroffen.»
    «Danach muss es passiert sein. Kurz danach. — Er ist mit dem Kopf gegen einen Stein geknallt. Gegen eine Grab steinkante.»
    Henning hat keine Antwort. Er ist kein besonders gu ter Phrasendrescher, wenn er betroffen ist.
    Isabell fährt fort: «Er hat auch woanders noch Prel lun gen, er ist nicht einfach hingefallen. Er ist zusammen ge schlagen worden. — Da sind ja auch deine Schwulen.»
    «Schwule schlagen keine Jungs zusammen», sagt Hen ning.
    «Quatsch!», sagt Isabell. «Jedenfalls. Also. Man darf nicht zu ihm. Hoffendich stirbt er nicht!» Isa atmet ein paar Mal tief durch, bebend, um sich zu beherrschen. Dann hat ihre Stimme wieder die gewohnte kräftige Laut stärke, aber hoch und dünn: «Wenn ich das Arschloch krie ge! Den mach ich fertig!»
    «Ja!», sagt Henning. «Den machen wir fertig!»
    Henning fühlt sich wie erschlagen. Sein Bauch ist zusammengekrampft. Er bewegt sich ganz langsam, geht in sein Zimmer. Setzt sich auf einen Stuhl. Legt sich auf sein Bett. Steht auf und macht Musik an. Er heult. Er hat Lars zum Friedhof geschickt.
    Sein Vater kommt nach Hause. Er schaut rein, um Hen ning guten Tag zu sagen und sieht, dass er geweint hat. Henning erzählt, dass Lars fast totgeschlagen worden ist und vielleicht stirbt.
    «Was!», ruft sein Vater ungläubig.
    «Gestern Nacht. Auf dem Friedhof der Mariengemein de.»
    «Ogottogott! Wo die Schwulen immer sind!», sagt sein Vater.
    Henning zuckt zusammen. Sein Vater geht los, um es der Mutter zu erzählen. «Furchtbar!», sagt er noch im Weg gehen.
    Henning versucht, Hausaufgaben zu machen. Es geht langsam. Er kann sich kaum konzentrieren. Er will nie man den sehen oder hören.
     
     
     

63
     
    Das Zimmer ist voller Sehnsucht.
    Henning ist nicht da. Steffen fühlt sich einsam.
    Alles in ihm schreit nach Henning. Nach Hennings Geruch, seinem Gesicht, seinem Körper, seinem Charme, sei ner Stimme, nach ihm.
    Alle Spiegel im Haus wollen ihn sehen.
    Steffen entwirft eine ich-liebe-dich !- Kart e für Henning. Dann zerreißt er sie zornentbrannt.
    Er wird sich nicht unterwerfen! Er wird stark sein! Er wird sich der Liebe nicht unterwerfen. Er wird sich doch nicht selber das Grab schaufeln!
    Er nimmt eine Unterhose und eine Zahnbürste, damit die Aktion symbolische Kraft hat, und fährt in die Haupt stadt. Zu Tete. Der wird er mal alles erzählen. Vielleicht sieht er dann klarer.

I
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    Umso schlimmer fiir die Fakten!
     
    G. W. F. Hegel

64
     
    Nach einer Weile hat er sich etwas beruhigt. Er will zu Steffen. Er muss Steffen sehen. Wenn Lars nun stirbt, und es ist seine Schuld! Er hat ihn hingeschickt!
    Natürlich ist es nicht seine Schuld, natürlich weiß er das. Und trotzdem ist es seine Schuld. Er muss Steffen sehen und ihm sagen, was er gemacht hat. Er muss

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