Henningstadt
Aber Schwul-Sein ist nicht nur ‘ ne Schublade, wenn man rein gesteckt wird, sondern auch, wenn man drin sitzen bleibt.» Steffen ist zufrieden über die geglückte Sentenz und räuspert sich.
Ein Kreis roter Fragezeichen fliegt um Hennings Kopf und schwebt in die Küche, in der eine Reihe von Blech büchsen über dem Herd steht, die in Steffens Handschrift beschriftet sind. Die Gewürze haben aufgedruckte Namen und der Toaster heißt Lava.
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Es ist wieder Zeit für die SIH. Henning freut sich, un ter die Schwulen zu kommen. Diesmal ist es ganz einfach reinzukommen, und er macht sich auch keine Gedanken mehr darum, dass ihn irgendjemand sehen könnte, es ist ihm wirklich egal geworden. Er ist stolz drauf, sich durch gerungen zu haben und in seiner Wahrheit zu sein.
«Die Rechtsaufsicht hat der Bürgermeister, SPD, aber der Rat der Stadt hat die Dienstaufsicht, und da sitzen auch die Grünen. Die werden sich dahinter klemmen und die Sache regeln. Das Recht ist auf unserer Seite! Wir sind ein gemeinnütziger Verein, und unser Flyer verstößt nicht gegen gute Sitten und nicht gegen irgendwelche Jugend schutz- oder Pornographiebestimmungen. Man kann den nicht so ohne weiteres konfiszieren. Die werden Ärger kriegen und sich entschuldigen müssen!» Peter regt sich immer furchtbar auf, hatte aber mehr Erfolg als Christian, scheint es.
«Wir müssen jetzt die nächste Ratssitzung abwarten. Wir haben Pressemitteilungen verschickt.» Soweit Christi ans Recherchen.
«Und ich hab mich mit einem Reporter getroffen. Ich hab ihm erzählt, was los ist, und er hat auch begriffen, was da läuft: eine böswillige Beschneidung der Mei nungs- und Pressefreiheit! — Der war vom Henninger Land», sagt Peter.
Der letzte Satz ging an Christians Adresse, der nichts dafür kann, dass seine Zeitung, der Anzeiger, konservativ ist.
Das Henninger Land wird in Henningstadt nicht so viel gelesen wie der Anzeiger, ist aber dafür auch in den umlie gen den kleineren Städten verbreitet, was der Anzeiger wiederum nicht ist.
Die Sache geht also ihren Weg durch die Institutionen.
Steffen ist gekommen, weil Henning kommen wollte. Er hat den Eindruck, die Leute seien seit letzter Woche hier sitzen geblieben. Vielleicht haben sie sich ein biss chen umgesetzt, aber eigentlich sieht es aus, als sei gar nichts passiert. Dieselben Tonfälle, dieselben Meinungen derselben Leute. Steffen trinkt Bier. Er ist abgenervt. Er weiß auch nicht, warum. Hennings Augen leuchten. Er hört gespannt auf jedes gesprochene Wort und saugt jede Geste auf.
Auf dem Weg zur Kneipe sagen drei Leute, wie schön es ist, dass Henning wiedergekommen ist. Henning freut sich, dass sie ihn dabeihaben wollen, obwohl er so jung ist.
Zur Gruppe sind sie getrennt gekommen und haben nicht nebeneinander gesessen. In der Kneipe setzen sie sich nebeneinander und halten Händchen. Henning nimmt Steffens Hand. Das ist sein Coming-out als Steffen-Freund. Ein paar harmlose Bemerkungen fallen. Henning wird über und über rot, schaut zu Boden und freut sich von einem Ohr zum andern, dass er Steffen hat. Steffen lacht. Er fühlt sich ein bisschen unwohl, der Frischf l eisch ver koster zu sein. Aber schließlich sind die andern nicht moralisch, sondern neidisch.
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Morgens um halb sieben kommt Henning im Mantel zur Wohnungstür rein, als seine Mutter am anderen Ende des Flurs gerade die Schlafzimmertür öffnet. Sie sehen sich an.
Meistens geht Henning zu Steffen. Sie trinken Kaffee und unterhalten sich. Machen Abendbrot, gehen spazie ren, sehen fern, treffen sich mit Christian im Kino, ziehen durch die Kneipen in Henningstadt, lesen sich was vor, ko chen, spülen, sind in Steffens Garten, wenn die Sonne scheint. Sie sieht ihn vorwurfsvoll an, ist aber froh, dass er wenigstens jetzt wieder da ist. Wo er war. Bei Steffen. «Aha!» Manchmal sagt er, er war mit Isa aus, oder hat sich mit Lars getroffen oder sonst irgendwas, meistens sagt er aber wahrheitsgemäß, dass er bei Steffen war. Sie sehen sich praktisch jeden Tag. Sex machen sie auch fast jeden Tag. Henning gefällt die Sache immer besser und er kriegt langsam raus, wie ’ s funktioniert und zusammen kriegen sie raus, was ihnen am meisten Spaß macht und was nichts für sie ist. Seit fast zwei Wochen geht das jetzt so. Henning gewöhnt sich an das neue Leben. Es wird seins.
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Mit Sorgfalt und L iebe gestaltet Christian drei But ter säure-Bömbchen und steckt sie in drei
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