Henry dreht Auf
Möglichkeit nie mehr wiederzusehen. Daß dieser mordende Berufsverbrecher lediglich fünfundzwanzig Jahre abbrummen mußte, war eine viel zu milde Strafe. Lebenslänglich sollte tatsächlich auch lebenslänglich und keinen Tag weniger bedeuten. In jämmerlichem Zustand schleppte Wilt sich den Gang entlang, ohne auch nur eine Sekunde lang das Papier in seiner Tasche und die grausigen Alternativen, vor denen er stand, zu vergessen. Das Nächstliegende wäre gewesen, dem Aufseher an der Pforte über McCullams Drohungen Bericht zu erstatten. Allerdings hatte der Bastard behauptet, ein Wärter stünde auf seiner Schmiergeldliste, und wenn es einer war, konnten es ebensogut auch mehrere sein. Und wenn er über die vergangenen Monate nachdachte, fielen Wilt etliche Gelegenheiten ein, bei denen McCullam angedeutet hatte, daß sein Einfluß im Gefängnis nicht unerheblich sei. Und draußen offenbar auch, denn sonst hätte er wohl kaum die Nummer von Wilts Bankkonto gewußt. Nein, da mußte er sich schon an jemanden in leitender Position wenden, nicht an einen kleinen Vollzugsbeamten.
»Na, war die Sitzung mit Feuerwerks-Harry nett?« fragte der Wärter am Ende des Ganges mit, wie es Wilt vorkamunheilschwangerer Betonung. Ja, er mußte unbedingt mit einem der Verantwortlichen reden.
Am Hauptausgang war es noch schlimmer. »Irgendwas anzumelden, Mr. Wilt?« fragte der Wärter fröhlich grinsend. »Wir können Sie ja wohl kaum dazu überreden hierzubleiben, oder?«
»Ganz bestimmt nicht«, gab Wilt rasch zurück. »Ach wissen Sie, Sie könnten es schlimmer treffen, als sich bei uns einzuquartieren. Alles modern und komfortabel. Glotze, und der Fraß ist heutzutage gar nicht so übel. Eine hübsche kleine Zelle mit ein paar freundlichen Leidensgenossen. Wirklich ein recht gesundes Leben. Nichts von all dem Streß draußen ...«
Aber Wilt wollte nichts mehr davon hören. Er trat hinaus in das, was er bislang als Freiheit betrachtet hatte. Jetzt schien es ihm nicht mehr so frei. Selbst die in die Abendsonne getauchten Häuser auf der anderen Straßenseite hatten ihre bescheidene Anziehungskraft verloren; ihre Fenster waren leer und wirkten drohend. Er stieg in seinen Wagen und fuhr etwa eine Meile auf der Gill Road weiter, bog dann in eine Seitenstraße ein und hielt an. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß er unbeobachtet war, holte er das Blatt Papier aus seiner Tasche und entrollte es. Es war völlig leer. Leer? Was hatte das zu bedeuten? Er hielt es gegen das Licht und betrachtete es genauer. Soweit er feststellen konnte, stand absolut nichts darauf. Und auch als er es waagerecht in Augenhöhe hielt und mit zusammengekniffenen Augen prüfte, konnte er keinerlei Spuren auf der Oberfläche entdecken, die darauf hinwiesen, daß jemand eine Nachricht mit einem Streichholz oder dem stumpfen Ende eines Stiftes darauf geschrieben hatte. Auf dem Bürgersteig kam ihm ein Mann entgegen. Schuldbewußt ließ Wilt das Papier auf den Boden fallen, zog einen Stadtplan aus dem Handschuhfach und tat so, als würde er nach einer Straße suchen, bis der Mann vorbeigegangen war. Anschließend vergewisserte er sich noch mit einem Blick in den Rückspiegel, daß die Luft auch wirklich rein war, bevor er das Papier wieder aufhob. Doch es war und blieb ein leeres Blatt Notizpapier, an einer Kante ausgefranst, als hätte jemand es hastig von einem Block abgerissen. Vielleicht hatte dieser McCullam unsichtbare Tinte benutzt. Unsichtbare Tinte? Wie zum Teufel konnte der im Gefängnis an unsichtbare Tinte gelangen? Eigentlich unmöglich, es sei denn ... in Wilts literarischem Gedächtnis regte sich etwas. Hatte nicht Graham Greene irgendwo mal erwähnt, er habe als Spion im Zweiten Weltkrieg Zitronensaft statt Tinte verwendet? Oder war das Muggeridge gewesen? Nicht, daß das eine Rolle spielte. Unsichtbare Tinte sollte unsichtbar sein, und wenn dieser Drecksack die Absicht gehabt hätte, ihm etwas mitzuteilen, hätte er ihm das schon verklickert. Außer natürlich, er war völlig meschugge, und in Wilts Augen war jeder, der vier Menschen über den Jordan befördert und weitere im Zuge der Beschaffungsmaßnahmen für seinen Lebensunterhalt mit einer Lötlampe malträtiert hatte, ohne Zweifel ein Irrer. Nicht, daß das McCullam im mindesten entlastet hätte. Der Kerl war ein Mörder, ob er nun zurechnungsfähig war oder nicht, und je eher sich dessen eigene Prophezeiung bewahrheitete, er werde absichtlich in die totale Verblödung getrieben, um so
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