Henry dreht Auf
wirklich sagen können, daß die an Ort und Stelle eine Autopsie durchführen«, murmelte er. »Warum zum Teufel ist sie in einem solchen Zustand?«
»Ich glaube fast, Mrs. Ruckner ...«
»Mrs. Ruckner? Mrs. Ruckner?« gurgelte der Direktor und versuchte vergeblich, das, was er soeben gesehen hatte, mit dem zarten Figürchen der Teilzeit-Dozentin für Ethnisches Sticken in Verbindung zu bringen. »Was zum Kuckuck hat Mrs. Ruckner mit diesem ... diesem ...«
Doch bevor er seine Frage präzisieren konnte, kam Inspektor Flint auf die beiden zu. »Nun, wenigstens haben wir diesmal eine echte Leiche«, meinte er fröhlich und mit sicherem Gefühl für den richtigen Zeitpunkt. »Hübsche Abwechslung für die Schule, finden Sie nicht?«
Der Direktor blickte ihn haßerfüllt an. Im Gegensatz zu Flint war er keineswegs erbaut von der Vorstellung, daß echte Leichen in seiner Schule herumlagen. »Also hören Sie, Inspektor ...«, setzte er an, in der Absicht, eine gewisse Autorität geltend zu machen.
Doch da hatte Flint schon eine Pappschachtel geöffnet, die er ihm unter die Nase hielt. »Ich meine, Sie sollten lieber erst einen Blick da hineinwerfen«, sagte er maliziös. »Ist das vielleicht die Sorte Lektüre, die Sie Ihren Schülern empfehlen?« Mit einer Mischung aus Entsetzen und Faszination starrte der Direktor auf die Pappschachtel. Nach dem Titelblatt der obersten Zeitschrift zu schließen – abgebildet waren zwei Frauen, eine Folterbank, ein ekelerregender, mit Ketten gefesselter Hermaphrodit und ein ... der Direktor wollte lieber nicht daran denken, wonach es aussah –, war die ganze Schachtel mit Schweinigeleien gefüllt, und er konnte nur hoffen, daß seine Schüler so etwas gar nicht kannten, geschweige denn lasen.
»Auf keinen Fall«, sagte er. »Das ist ja regelrecht Pornographie!«
»Schweinischscharfes Zeug«, sagte Flint. »Und dort, wo ich das gefunden habe, gibt es noch mehr von der Sorte. Das wirft ein ganz neues Licht auf den Fall, nicht wahr?«
»Auch das noch!« murmelte der Direktor, während Flint quer über den Hof davontrottete. »Bleibt uns denn gar nichts erspart? Und dieser Hundesohn scheint diese abscheuliche Angelegenheit auch noch höchst amüsant zu finden.«
»Wahrscheinlich hängt das mit dieser schauerlichen Geschichte zusammen, die Wilt vor ein paar Jahren angezettelt hat«, meinte der Stellvertretende. »Die hat er wohl nie vergessen können.«
»Ich auch nicht«, entgegnete der Direktor und ließ seinen düsteren Blick über den Gebäudekomplex wandern. Einst hatte er gehofft, sich hier einen Namen zu machen. Und in gewisser Weise war ihm das sogar gelungen – dank einer Reihe von Ereignissen, die sich, für ihn jedenfalls, mit Wilt verbanden. In diesem einen Punkt war er mit dem Inspektor einer Meinung. Der kleine Saukerl gehörte hinter Schloß und Riegel. Und genau da war Wilt zu diesem Zeitpunkt. Damit Eva nichts davon erfuhr, daß er seine Freitagabende auf dem amerikanischen Luftwaffenstützpunkt Baconheath verbrachte, opferte er seine Montage, um einem gewissen Mr. McCullam im Gefängnis von Ipford Unterricht zu geben, und ließ sie in dem Glauben, daß es vier Tage später ebenso war. Das trug ihm zwar ein schlechtes Gewissen ein, ließ sich aber halbwegs durch den Umstand rechtfertigen, daß Eva, wenn sie schon auf einer exklusiven Erziehung inklusive Computer für vier Töchter bestand, nicht im Ernst erwarten konnte, daß sein Gehalt, zwar aufgebessert durch Ihrer Majestät Gefängnisverwaltung, dafür ohne weiteres ausreichte. Die Vorlesungen auf dem Luftwaffenstützpunkt stopften dieses Loch; abgesehen davon war Mr. McCullams Gesellschaft Strafe genug, was dazu beitrug, Wilts Schuldgefühle abzubauen. Andererseits bemühte sich dieser Musterschüler redlich, in Henry neue zu wecken. Nachdem ein Soziologiedozent von der Volkshochschule McCullam eine solide Grundlage in kritischer Gesellschaftswissenschaft vermittelt hatte, wurden Wilts pädagogische Versuche, ihm E. M. Forster und Howards End schmackhaft zu machen, andauernd durch beißende Bemerkungen des Häftlings über die sozioökonomische Unterprivilegierung, die ihn zu dem gemacht hatte, was er war, torpediert. Und auch seine Ansichten über den Klassenkampf, die Notwendigkeit einer vorzugsweise blutigen Revolution und die völlige Umverteilung von Eigentum gingen ihm recht flüssig von den Lippen.
Nachdem McCullam sein ganzes Leben damit zugebracht hatte, diese Umverteilung auf entschieden
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