Hera Lind
Stimme … Ein kurzer Seitenblick: Nein, der war mir noch nie begegnet.
In der Reihe vor uns plärrte sich ein Kleinkind die Seele aus dem Leib, und ich arbeitete mich zu der jungen Mutter vor, um ihr den Schreihals abzunehmen. Sie selbst betupfte ihr mit Saftflecken übersätes Kostüm.
»So ein Mist, verdammt, ich fliege zu einer Taufe!«
»Das tut mir schrecklich leid, haben Sie keine Ersatzkleidung dabei?«
»Nein. Nur für das Baby. Nicht für mich!«
Gern hätte ich ihr gesagt, dass die Fluglinie selbstverständlich für den Schaden aufkommt und sie sich gleich nach der Landung neu einkleiden kann, aber das galt nicht für Vicki Airlines.
Markus und ich hatten alle Hände voll zu tun. Ein paar Gepäckstücke waren aus den Ablagefächern gefallen, es gab kleinere Platzwunden. Wir eilten mit Pflastern und Verbandszeug von einem zum anderen. Meine Güte, was für ein erster Arbeitstag! Aber ich fühlte mich toll. Endlich wurde ich wieder gebraucht. Es machte Spaß, wieder eigenes Geld zu verdienen. Nach einer halben Stunde kam die Entwarnung, und wir nahmen den Service wieder auf.
»Der Herr? Was kann ich Ihnen anbieten?« Meine Stimme klang schon wieder so routiniert, als hätte ich nicht zwan zig Jahre lang pausiert. Ich stand vor dem seitengescheitelten Mensch auf dem Mittelsitz, neben den ich vorhin gefallen war.
»Ich hätte gern einen Tomatensaft.«
Meine Finger tasteten auf dem Rollwagen nach dem entsprechenden Getränkekarton, während mein Kopf zu dem Passagier herumschnellte. Er tippte wieder etwas in seinen Laptop und schaute mich gar nicht an. Diese Stimme …
»Möchten Sie Salz und Pfeffer?«
»Ja bitte. Und einen Kaffee.«
Wieder machte ich mich am Rollwagen zu schaffen und überlegte fieberhaft, woher mir diese Stimme nur so bekannt vorkam.
»Milch und Zu…?« Ich starrte ihn an. Jetzt erwiderte er zum ersten Mal meinen Blick. Ich hatte den wirklich noch nie gesehen! Wieso kam er mir so bekannt vor, als hätte ich mich schon stundenlang mit ihm unterhalten?
»Ja bitte. Und wenn’s geht, auch noch ein Glas Wasser.«
Das war einer von denen, die – wenn’s was umsonst gibt – ja nichts verpassen wollen. Ich riss mich zusammen und hantierte mit Bechern, Tütchen und Plastiklöffelchen. Der Servierwagen rollte ein paar Meter weiter. Mist, ich hatte vergessen, die Bremse anzuziehen! Der Mann hielt mir erwartungsvoll seine hohle Hand hin.
»Hier erst mal der Tomatensaft … mit Eis?« Ich stellte ihn neben seinen Laptop. Nun hielt ich noch den Kaffee und das Wasser in den Händen, während ich die Tütchen unter den Arm geklemmte hatte. Ein bisschen ungeschickt sah das schon aus. Mist!
Der Mann beugte sich vor und starrte auf mein Namensschild. »Freundlich bedient sie Anita Meran.« Plötzlich zuckte er zusammen und wurde blass.
»Nein da-da-danke. Ohne Eis.«
Wieso stotterte er denn jetzt?
Es machte ping!, und die Anschnallzeichen leuchteten auf. Vicki, der Billigflieger, sank in Sekundenschnelle um gefühlte dreitausend Meter. Der Servierwagen schoss wie ein Pfeil zu den hinteren Notausgängen, ich klammerte mich an einen der Sitze und schüttete dem Mann versehentlich den Tomatensaft ins Gesicht. Der Kaffee glitt mir aus der Hand und landete in seinem Schoß. Er schrie auf, fasste sich in den Schritt, und ich prallte mit dem Kopf gegen seine Brille, die ihm daraufhin von der Nase rutschte. Da purzelte auch noch das Wasser hinterher und ergoss sich über seinen Laptop. Ich wischte an dem durchweichten Mittelsitzpassagier herum und entschuldigte mich tausendmal. Er sah aus wie ein begossener Pudel.
Nachdem sich der erste Schreck gelegt hatte, reichte mir der begossene Pudel ungeschickt die Hand und sagte übertrieben förmlich: »Jürgen Immekeppel. Von der Sparkasse Heilewelt.«
»Danke, sehr angenehm«, sagte ich mechanisch. »Anita Meran. Von Vicki Airlines.« Mir stockte der Atem. Oh Gott! Mir schwante Schreckliches. Er war doch nicht etwa …
Rote Flüssigkeit tropfte von seinen Brillengläsern.
»Oh Gott, sind Sie verletzt?« Ich beugte mich erschrocken über ihn.
Er nahm seine Brille ab, und ich reichte ihm eine Papierserviette.
»Ich habe Sie an Weihnachten angerufen.«
Die Situation überforderte mich komplett. Mir fiel nichts Besseres ein als die Höflichkeitsfloskel: »Ja. Danke für den Anruf.«
»Nichts für ungut. Der hat ja eine regelrechte Lawine ausgelöst.«
Er versuchte, sich in seinem Mittelsitz aufzurichten, war aber eingekeilt von Bechern,
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