Hera Lind
Schluchzer bahnte sich seinen Weg, und ich versuchte, ein Lachen daraus werden zu lassen. »Viel Glück in Chicago.«
Die Leute drängten sich unwillig an uns vorbei. »Mitten im Durchgang ein tränenreicher Abschied, ja muss das denn sein …«
»Letzter Aufruf für den Flug nach Hannover. Die Passagiere werden gebeten …«
Er ließ meine Hand los. »Alles Gute, Lotta. Pass auf dich auf.«
»Du auch auf dich.«
»Vergiss nicht zu leben, Lotta.«
»Ich habe mich noch nie so lebendig gefühlt wie mit dir.«
Ein letztes trauriges Lächeln, die Fältchen um seine Augen kräuselten sich: »Wir gehen jetzt und schauen beide nicht mehr zurück. Abgemacht?!«
»Abgemacht.«
Wir drehten uns gleichzeitig voneinander weg. So, geschafft! Das war wie beim Zähneziehen: Ein kurzer Ruck, und dann ein blutendes Loch, das erst nach einer gewissen Zeit anfangen würde, zu pochen und zu schmerzen. Aber noch nicht jetzt. Dafür war ich noch zu betäubt. Ich eilte durch die Sicherheitskontrolle. »Laptop, Handy, Gürtel, Uhr …?«
Weinend schüttelte ich den Kopf.
»Flüssigkeiten?«
Allerdings. Tränenmeere.
»Können Sie mal Ihre Jacke ausziehen und die Stiefel? Drehen Sie sich um, heben Sie den Fuß …«
Ich drehte mich um. Mein Blick glitt über das Menschenmeer. Da! Da stand er. Er schaute doch zurück. Und sah mir direkt ins Gesicht.
»Geh endlich!«, rief ich verzweifelt und wedelte mit den Armen, als wollte ich ein lästiges Insekt verscheuchen. »Geh!«
»Danke, Nächster.«
Ich raffte meine Siebensachen vom Band und stellte mich auf die Zehenspitzen. Er hatte die Hände in den Manteltaschen vergraben und ging einfach nicht. Das war gegen die Abmachung. NOCH konnte ich umkehren! Mich zu ihm bekennen! Mit ihm gehen! Ich WUSSTE, dass er der Richtige war! Ich konnte die Eieruhr umdrehen und uns neue Zeit schenken!
Die Reisenden rempelten mich an. »Machen Sie doch mal Platz hier! Maulaffen feilhalten können Sie doch auch zwei Meter weiter …«
»Geh!!« Ich warf die Arme in die Luft. »Bitte!«
»Letzter und dringender Aufruf für die Maschine nach Hannover! Wir bitten Frau von Thalgau und Herrn sowieso UMGEHEND …«
Christian hob die Hand. Dann legte er zwei Finger auf seine Lippen.
Ich wollte ihm gerade eine letzte Kusshand zuwerfen, als mich jemand am Arm packte: »Bist du’s oder bist du’s nicht? Nein! Lodda! Des glaub ich ja jetzt net, dess ich dich hier treff! Fliegst du auch nach Hannover? Du, ich sag dir, ich war in Münchn bei Pro Siebn, und ich hab mit dem Produzenten von Deutschland sucht das Supertalent verhandelt. Und was soll ich dir sagn! Die nehme die Vicki! Ganz großes Kino!«
Er war der Letzte, dem ich jetzt begegnen wollte. Aber das Leben hatte mir wieder mal die Arschkarte zugespielt. Und die Arschkarte war ausgesprochen erfreut über unsere Begegnung und kannte wie immer keinerlei Taktgefühl. Im Eilschritt zog mich Bäckermeister Gerngroß zum Flieger. »Bist du erkältet? Du siehst ja aus, als würdst weinen! Ich kann dich nachher im Auto mitnehmen nach Heilewelt!«
Oh, Gott! Wie grauenhaft! Christian war aus meinem Gesichtsfeld verschwunden. Ihn würde ich nie wiedersehen. Den Bäckermeister hingegen jeden Tag. Das Leben war so ungerecht!
»Sagn S’ mal, Frollein, könne S’ mich upgräidn, mer ham so viel zu besprechn, es geht um die Weltkarriere meiner Tochter, da könne S’ net Nein sagn …«
Bitte nicht!, flehten meine verweinten Augen. Bitte setzen Sie ihn in die hinterste Reihe und knebeln ihn dort. Aber das Leben zeigte mir weiterhin die Arschkarte. Kurz darauf stieß ich in der Businessclass mit dem Bäckermeister auf Vickis Weltkarriere an. »Nichts für ungut, Lodda, samma wieda gut! Ich sach immer, jedä ist seines Glückes Schmied! Von selbä tut sich nix! Man muss halt kämpfen, auch wenn die Widerstände unüberwindbar scheinen«, laberte der grässliche Mensch auf mich ein. »Wenn man ein Ziel vor Augen hat, muss man drauf zugehe und darf net aufgebm, egal, was die Leut sagn.«
Ich nickte unter Tränen.
Eine knarrende, unpersönliche Stimme aus dem Lautsprecher forderte uns auf, wegen aufziehender Turbulenzen angeschnallt zu bleiben – so lange, bis das Anschnallzeichen erloschen sei.
Das wird es nie!, dachte ich. Ich werde für den Rest meines Lebens angeschnallt bleiben.
Und unser Flieger verschwand im wattigen Wolkenmeer.
ANITA
»Meine Damen und Herren, wegen aufziehender Turbulenzen bitten wir Sie, sich zu Ihrer eigenen Sicherheit wieder
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