Herbert, James - Die Brut.pdf
Stunde auf dem Weg vom Pfarrhaus zu seiner alten Kirche anzutreffen, denn seit einigen Jahren brauchte er nicht mehr so viel Schlaf. Die ersten Strahlen, die ein Blattmuster auf die Wände seines Schlafzimmers zauberten, waren ihm immer mehr zu einem willkommenen Zeichen geworden, dass der anbrechende Tag seine nächtliche Einsamkeit beendete. Seit dem Tod seiner Frau vor acht Jahren hatte der Vikar niemanden mehr, dem er sich anvertrauen konnte, der sich um ihn kümmerte.
Er hatte schon öfter daran gedacht, mit dem Bischof über seine neuerlichen Zweifel, über seine den Glauben schwächende Furcht vor dem Tod zu sprechen, sich dann aber entschlossen, allein den Kampf aufzunehmen. Gott würde ihm sicher Gnade erweisen und ihm helfen, den fehlenden Glauben wiederzuerlangen.
Er zog den Schal über seinem Priesterkragen enger.
Sein dürrer Körper war allzu anfällig gegen die feuchte Morgenkälte. Wieder und wieder fragte er sich, wieso ihn solche Zweifel erst in diesen späten Jahren befielen, während sein Glaube früher felsenfest gewesen war. Irgendwie hing das mit dem Wald zusammen, das fühlte er. In seiner Einbildung versinnbildlichte die erdrückende Nähe des Forstes ringsum die ständige Gegenwart des Todes, der überall im Verborgenen auf den richtigen Moment wartete, um sich zu zeigen. Der Vikar hatte den Wald einmal geliebt. Jetzt war er ihm zum Symbol für seine Zweifel, seinen schwankenden Glauben geworden.
Der Priester betrat den überdachten Torweg zur Kirch-pforte und schaute zum Turm des alten Gotteshauses hinauf, der nicht hoch war, seine Spitze ragte kaum über die höchsten Äste der Bäume ringsum hinaus. Und doch reckte er sich trotzig auf seinem irdischen Fundament empor, als wolle er in den Himmel hinaufreichen und durch seine klobige Form den Seelen der Gläubigen Halt geben.
Seine solcherart vergeistigte Bauweise entfachte in der Brust des Priesters ein plötzliches Hochgefühl. Zweifel gehörten zum Dienst in Demut, denn hätte man keine Zweifel, würde man nicht nach Antworten suchen, gäbe es keine Hindernisse zu überwinden, keine Prüfungen, an denen man gemessen wurde. Jetzt war seine Zeit der Prüfung gekommen, und sein Glaube würde noch fester, sein Vertrauen auf Gott noch unzerstörbarer sein, wenn er diese Heimsuchung überstanden hatte.
Die kleine Kirche schenkte ihm immer wieder so einen plötzlichen Optimismus, und aus diesem Grund suchte er sie auch oft so früh am Morgen auf. Die drängenden Gedanken der Nacht mussten schnell überwunden werden, wollte er den Tag überstehen, und eine ruhige Stunde am Altar half ihm in der Regel bei der Errichtung seines Schutzwalls.
Unter seinen Schuhen knirschte der Kies des schmalen Pfades, der zwischen den Gräbern zur Kirchenpforte führte, und er vermied den Blick auf die grauen Steine zu beiden Seiten. Erst als er seine Hand auf den runden Metallgriff der Pforte legte, hörte er die raschelnden Geräusche hinter dem Gotteshaus. Langsam drehte er den Kopf in ihre Richtung, eine seltsame Kälte kroch ihm das Rückgrat empor. Er lauschte angespannt, versuchte das Geräusch zu lokalisieren. Es war, als werfe jemand mit Erde, als würde jemand etwas aus dem Boden graben. Es musste ein Tier sein, denn er vermisste das vertraute Schaben einer Schaufel, die sich ins Erdreich bohrte, auch das dumpfe Kollern von Erdschollen auf dem Boden. Hier hörte er nur das Prasseln kleiner Erdklumpen.
Das Splittern von Holz ließ ihn hochfahren. Eisige Furcht stieg in ihm auf, doch er verließ die Pforte und folgte dem Pfad zum hinteren Teil des Gotteshauses, wobei er absichtlich viel Lärm machte, um - was auch immer da hinten am Werk war - zu warnen und zu vertreiben, ehe er die Stelle erreichte.
»Ist da wer?« rief er. Sekundenlang herrschte Stille.
Dann ertönte das Prasseln wieder.
Der Pfarrer erreichte die Ecke des Gotteshauses, wo sich der Boden leicht absenkte. Steinstufen führten zum grasbewachsenen Friedhof hinunter. Von hier aus konnte er deutlich das frisch geöffnete Grab sehen.
Es war das Grab der alten Mrs. Wilkinson, die am Tag zuvor beerdigt worden war. Um das ziemlich große runde Loch lagen Erdbrocken verstreut. Das Krachen von Holz ließ den Priester das Schlimmste befürchten. Zorn flammte in ihm auf, er eilte die Stufen hinunter. Welches Tier würde sich schon in die Erde buddeln, um an das Fleisch einer menschlichen Leiche heranzukommen? Er erreichte den Rand des Grabes und schrie auf bei dem Anblick, der sich ihm
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