Herbert, James - Die Brut.pdf
Dr.-Barnardo-Junge. Und nach seinen drei Jahren draußen im Leben hatte er erkannt, dass dies alles war, was er jemals sein wollte.
Die Welt flößte ihm Angst ein. Sie war zu groß, zu aggressiv, es gab zu viele Fremde. Befand er sich auf der Straße, rannte er fast, hatte immer das Gefühl, nackt den Blicken der anderen ausgesetzt zu sein und durch seine Eile die Zeit dieses Ausgeliefertseins verkürzen zu können. Dieses Syndrom, dieses furchtsame Zurückweichen vor der Welt, war unter den flügge werdenden Waisenkindern allgemein üblich, doch die meisten überwanden mit der Zeit dieses Angstgefühl. Nicht so Gordon: Er vermisste das Heim und dessen Schutz in qualvoller Weise.
Das Waisenhaus hatte ihm bei freundlichen Menschen mit enger familiärer Bindung ein möbliertes Zimmer besorgt, und gerade durch diesen Zusammenhalt der Familienmitglieder untereinander kam er sich wie ein Eindringling vor. Die Leute taten ihr Bestes, damit er sich bei ihnen wohlfühlte, und er nahm ihre Gastfreundschaft mit tiefer Dankbarkeit an. Doch je länger er bei ihnen wohnte, desto deutlicher wurde ihm bewusst, was ihm in seiner Kindheit und Jugend an Liebe entgangen war. Er lehnte seine Gastgeber nicht ab, spürte aber seine Andersartigkeit.
Auch die Mädchen wurden zu einem Problem. Sie zogen ihn an, und einige der Kolleginnen im Supermarkt erwiderten seine Freundlichkeit. Trotzdem fühlte er auch hier diese seltsame Barriere zwischen sich und den anderen, als wäre er von ihrer Welt durch eine Glaswand getrennt. Mit der Zeit hätte er sich vielleicht in diese andere Welt vorarbeiten, sich integrieren können, doch die Einsamkeit während dieser Lernphase wurde ihm unerträglich. Im Heim war er jemand gewesen, hier draußen war er ein Niemand. Er kehrte zurück, und im Heim verwandelte man seine Niederlage in einen Triumph. Das Heim war sein Zuhause, und dort wollte er bleiben.
Gordon drehte sich im Schlaf auf die Seite, und seine Lider öffneten sich einen Spaltbreit, ehe er sie weit aufriss. Er starrte eine Zeitlang auf die Dachplane des Zelts, seine wirren Traumbilder wirbelten durcheinander, ehe sie sich verflüchtigten. Das Nachtlicht warf einen grünlichen Schimmer über die schlafenden Gestalten im Zelt. Gordon sah sich um und versuchte festzustellen, ob alle schliefen.
Er lauschte, ob jemand im Schlaf sprach oder sich regte, doch das Schnarchen und die ruhigen Atemzüge der Jungen überzeugten ihn, dass alles in Ordnung war. Was hatte ihn dann aus dem Schlaf gerissen?
Er lag im Halbdunkel und horchte.
Ein leises Scharren an der Zeltplane veranlasste ihn, den Kopf zu wenden. Das Geräusch verstummte. Gordon hielt den Atem an. Irgendetwas kratzte an dem groben Stoff, etwas Kleines, dicht oberhalb des Bodens. In Höhe seiner Hüfte beulte sich die Plane ein wenig aus, und diese Delle bewegte sich plötzlich auf seinen Kopf zu. Vorsichtig schob sich Gordon in seinem Schlafsack von dem Höcker weg, der sich nicht mehr rührte. Es war, als ob das Wesen draußen Gordons Anwesenheit, die Bewegung im Zeltinnern, gespürt hätte. Er musste sich beherrschen, um nicht aufzuschreien und von der Zeltwand zurückzuweichen. Damit würde er die kleineren Jungen erschrecken.
Wahrscheinlich war es nur ein Fuchs oder ein anderes neugieriges Nachttier. Außerdem wäre es wohl kaum in der Lage, das starke Zelttuch zu durchdringen. Langsam öffnete er den Reißverschluss des Schlafsacks und befreite seine Arme.
Der Höcker kam wieder in Bewegung, auf sein Gesicht zu, und Gordon erkannte, dass das Tier ein paar Fuß lang sein musste. Wahrscheinlich doch ein Fuchs. Oder eher ein Dachs? Egal, jedenfalls war das Tier nicht sehr groß.
Oder kroch es auf dem Bauch vorwärts? Es könnte ein Hund sein. Wieder wurde die Bewegung unterbrochen, dann schien der Höcker noch deutlicher hervorzuragen.
Gordon schob seinen Kopf zur Seite, doch er war immer noch kaum einen Fuß von der sich nach innen wölbenden Zeltplane entfernt. Er hatte das unangenehme Gefühl, die Kreatur da draußen würde ihn durch die Plane hindurch beobachten und seine Furcht wittern. Mit der freien Hand tastete er nach der Taschenlampe, die beim Zelten immer griffbereit neben ihm lag. Der Junge an seiner Seite bewegte sich unruhig, als Gordons Hand gegen seinen Schlafsack stieß. Endlich schlossen sich die suchenden Finger des Erziehers um die kühle Metallröhre. Gordon hatte sie mit dem Körper bei seiner Flucht vor dem wandernden Höcker zu dem schlafenden Jungen
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