Herbst - Läuterung
diesem Ausmaß. Wir haben einen Arzt bei uns, der zu mir sagte, dass er der Meinung ist, ihre Gehirne hätten die Infektion überlebt. Es ist, als würden sie allmählich wieder zu Bewusstsein kommen, obwohl ihre Körper auseinanderfallen. Es wirkt so, als ob sie durch Medikamente ruhiggestellt worden wären, die Monate brauchen, um abzuklingen.«
»Das ist dann ja gut, oder?« Guests Mund war trocken, und er musste tief Luft holen, bevor er weitersprechen konnte. »Problem gelöst, wie? Wenn sie in der Lage sind zu denken und sich selbst zu beherrschen, dann stellen sie für uns doch keine Gefahr mehr dar. Sie werden einsehen, dass das kein fairer Kampf ist und einfach dasitzen und verrotten.«
»Möglicherweise«, antwortete Michael mit Bedacht. »Aber ich glaube gar nicht, dass das Problem, ob sie für uns eine Bedrohung darstellen, noch eine Rolle spielt.«
»Was reden Sie da?«
»Ich habe die ganze Zeit über geglaubt, dass die Leichen durch Instinkt angetrieben werden. Man hat den Eindruck, als würden sie auf einer höchst grundlegenden Stufe angeregt und gelenkt. Jedes Mal, wenn eine auffällige Veränderung in ihrem Verhalten vorliegt, ist es, als ob sie eine weitere Stufe der Selbsterkenntnis erlangt hätten.«
»Das verstehe ich nicht«, murmelte Guest.
»Haben Sie bemerkt, wie sie manchmal miteinander kämpfen?«, fragte Michael. Verschiedene Häupter nickten ihm zu. »Es scheint immer völlig willkürlich, nicht provoziert und ohne Grund zu sein, oder? Aber haben Sie je innegehalten und sich gefragt, warum sie das tun? Was wollen sie durch ihre Kämpfe erreichen? Unter ihnen gibt es keinen Rang, Status oder eine andere Form der Unterteilung. Sie essen nicht, sie suchen keinen Schutz, sie kämpfen nicht um Nahrungsmittel oder Besitztümer.«
»Was wollen Sie damit sagen?«, entfuhr es Brigid. »Warum, glauben Sie, tun sie es dann?«
»Ich denke, dass ihre Kämpfe nichts damit zu tun haben, dass sie etwas wollen, denn sie haben keine erkennbaren Bedürfnisse. Meiner Meinung nach ist das Einzige, wofür es sich für sie zu kämpfen lohnt, ihr Überleben. Sie bekämpfen einander nur, um weiter existieren zu können. Es geschieht aus Selbsterhaltung.«
»Ich akzeptiere nicht einmal irgendwas davon«, wimmerte Guest. »Hören Sie sich doch einmal selber zu! Können Sie hören, was Sie sagen? Können Sie hören, wie ...«
»Was ich damit sagen will«, fügte Michael, der von Guests Ausbruch unbeeindruckt blieb, mit unheilvoll ernster Stimme hinzu, »ist, dass die Leichen für uns keine Bedrohung darstellen, sondern eher, dass sie beginnen, uns als Gefahr für sich selbst zu sehen. Und wenn sie wirklich von Trieben geleitet werden, dann werden sie tun, was immer sie auch tun müssen, um sicherzustellen, dass sie weiterhin bestehen werden.«
27
Kelly Harcourt
Ich halte das nicht mehr länger aus. Ich sitze hier nun schon beinahe einen Tag und weiß, dass ich es nicht mehr länger verkrafte.
Ich habe mir alles angehört, was die anderen zu sagen hatten und versucht zu verstehen, wie sie denken. Doch es gelingt mir nicht. Meine Sicht der Dinge unterscheidet sich von der ihren. Meine Prioritäten sind anders als ihre. Sie versuchen, mich davon zu überzeugen, dass ich stark bleiben und mit ihnen mitkommen soll, doch ich weiß, dass es keinen Zweck hat. Gleichgültig, was sie glauben, für mich und Kilgore tun zu können, es wird niemals geschehen. Sie werden genug Schwierigkeiten bei dem Versuch haben, sich von jetzt an selbst zu versorgen. Wenn es hart auf hart kommt, werden sie sich für uns nicht selbst in Gefahr bringen. Und ich mache ihnen keinen Vorwurf. Das wäre dumm. Das wäre sinnlos. Was mit Kilgore und mir geschehen wird, ist nicht zu vermeiden.
Das Warten schmerzt mich am meisten.
Ich hatte genügend schwere Zeiten bereits früher. Wie ein Baby habe ich mich durch die erste Hälfte der Grundausbildung geheult, saß draußen am Schlachtfeld fest und starrte auf den Gewehrlauf des Gegners. Mit all dem konnte ich umgehen. So hart es zu der Zeit auch war, ich bin damit fertig geworden und habe es durchgestanden. Als diese Dinge, egal wie schrecklich sie waren, passierten, konnte ich damit fertig werden.
Der Unterschied zu heute liegt darin, dass ich keine Kontrolle darüber habe. Ich kann mir in dieser Sache nichts ausdenken, nicht verhandeln und mich nicht durchkämpfen. Das Ende steht von vornherein fest, und ich bin dazu verdammt mir die Zeit zu vertreiben, indem ich hier sitze und
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