Herbst - Läuterung
sich, einen Weg zu finden, um für eine Weile abzuschalten und das Grübeln zu unterbrechen. Es war unmöglich. Wenn er nicht von dem Lärm, der von den anderen Überlebenden im Erdgeschoss ausging, abgelenkt wurde, dachte er über die Insel nach – und wie er es zu guter Letzt geschafft hatte, dorthin zu gelangen. Wenn er damit aufhörte, über die Insel nachzudenken, ertappte er sich dabei, dass er über das veränderte Verhalten der Leichen grübelte, und wenn er darüber nicht mehr sinnierte, dann begann er über Emma nachzudenken. Als er erst einmal damit begonnen hatte, konnte er nicht mehr damit aufhören.
Seltsam, wie sich durch die Entfernung die Perspektive veränderte, dachte er. Nachdem er die letzten beiden Monate gewissermaßen die gesamte Zeit mit Emma verbracht hatte, hatte er sich daran gewöhnt, sie um sich zu haben. Es fühlte sich nun, da sie voneinander getrennt waren, seltsam an – beinahe falsch. Bis jetzt hatte er immer sie gehabt, um mit ihr zu sprechen, sie anzuschreien oder mit ihr zu weinen. In Anbetracht dessen, dass sie zuvor den Großteil ihrer Zeit im selben Gebäude oder demselben Fahrzeug verbracht hatten, konnte man nun behaupten, dass sie sich jetzt nicht einmal mehr im selben Land aufhielten. Die Entfernung zwischen ihnen schien gewaltig, nahezu unermesslich. Die physikalische Kluft zwischen ihnen gab ihm ein seltsam schuldiges Gefühl und brachte ihn dazu, sich die Frage zu stellen, ob es die richtige Entscheidung gewesen war, das Festland zu verlassen. Er hätte sich nie von ihr trennen sollen. Er wusste, dass sie mehr als fähig dazu war, sich um sich selbst zu kümmern. Sie hatte sich unlängst mehr als genug um ihn gekümmert, doch das machte es nicht einfacher für ihn. In vielerlei Hinsicht fühlte er sich für sie verantwortlich. Mehr als das mochte er es, bei ihr zu sein und er vermisste ihre Gegenwart. Bislang hatte er es noch nicht gewagt, ihr das auch zu sagen, doch er wusste, dass er sie liebte. Er war sich einigermaßen sicher, dass auch sie ihn liebte, so sehr, wie jemand in ihrer kalten und emotional ausgehungerten Welt jemanden lieben konnte. Seine plötzliche Einsamkeit an diesem Abend, obwohl er von Menschen umgeben war, hatte ihm die Tiefe und Stärke seiner Gefühle für Emma schmerzhaft ins Bewusstsein gerufen, doch er hatte sie aufgrund der Umstände verborgen und zurückgehalten. Der beständige Druck und die Gefahr auf dem Festland machte es für sie beide unmöglich einzuschätzen, wie sie tatsächlich füreinander empfanden.
Es war sinnlos, im Dunkeln auf dem Bett zu liegen. Er würde nicht einschlafen können. Da er bereits vollständig angezogen war, stand er auf und schlich über das enge Stiegenhaus nach unten, wo Brigid, Guest, Harper und Gayle Spencer in der Küche saßen.
»Geht’s Ihnen gut?«, fragte Brigid, als er den Raum betrat. Seine schlurfenden Schritte auf den Holzdielen über ihnen hatten sie aufmerksam werden lassen, dass er wach und aufgestanden war.
»Ja, alles in Ordnung«, antwortete er leise.
»Kaffee?«
Er nickte. Der Wasserkessel kochte auf einem tragbaren Gasherd und erfüllte den Raum mit Dampf und Wärme. »Wo sind die anderen?«, wollte er wissen, während er sich umsah und versuchte, nicht zu gähnen.
»Danny, Tony und Richard halten sich im oberen Geschoss auf, Harry und Bruce sind im Freien.«
»Im Freien? Was zum Teufel tun sie dort?«
»Wache halten«, antwortete Gayle.
»Warum? Ist etwas vorgefallen?«
Sie klärte ihn auf. »Nein, wir haben nur nicht vor, irgendein Risiko einzugehen, das ist alles.«
»Verdammt! Dort, wo ich gerade hergekommen bin, würde es bereits eine Gefahr bedeuten, nur im Freien zu sein.«
»Das ist uns klar. Hier ist es anders, Sie werden sich daran gewöhnen.«
Michael ging an das Fenster heran und blickte hinaus in die Dunkelheit. Er konnte einige Meter vor sich eine Bewegung ausmachen. Sie war zu schnell und zielgerichtet gewesen, um von einem Leichnam zu stammen. Es musste sich dabei entweder um Stayt oder Fry gehandelt haben.
»Bitte schön.« Brigid reichte ihm einen Becher Kaffee.
»Danke.« Er konnte nun einen der Männer draußen etwas deutlicher erkennen. Wer auch immer es war, er kam zurück zur Hütte. Sekunden später öffnete sich die Tür mit einem Knarren, und Harry Stayt trat herein.
»Alles in Ordnung, Harry?«, fragte Gayle.
Stayt nickte und beschwerte sich: »Verdammt kalt da draußen heute Nacht.«
»Warum kommst du rein? Ist draußen irgendwas
Weitere Kostenlose Bücher