Herbst - Läuterung
abwarte. Ich kann meine Augen nicht mehr schließen, ohne alles vor mir zu sehen und mich zu erinnern, was ich verloren habe. Seit Tagen habe ich nicht mehr richtig geschlafen, da mein Kopf, selbst bevor wir an die Oberfläche kamen, mit beharrlichen Albträumen und dunklen Überlegungen angefüllt ist. Und alles scheint nun, seit wir hier auf dem Flugplatz sitzen, zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein. Ich schaue mir die Leute rings um mich an und kann sehen, dass ihre Gesichter von mehr Hoffnung erfüllt sind, denn je. Sie können endlich einen Ausweg sehen. Die Dinge, die sie davon abhalten, sich vorwärts zu bewegen, sind nun offensichtlich und klar. Wenn sie diesen Ort verlassen, werden sie diese Schwierigkeiten hinter sich lassen. Aber es ist egal, wohin ich gehe. Der Standort würde nichts verändern. Es sind nicht die Leichen, die mich töten werden, sondern das, was sich in der Luft befindet. Was auch immer ich tue, wo immer ich auch hingehe – es ist stets dasselbe.
Die Dinge haben sich geändert, seit wir hier sind. Die Ankunft hier fühlte sich an, als ob das Ende der Straße erreicht worden wäre. Ich habe heute Nachmittag beobachtet, wie der Helikopter abflog und da wurde mir bewusst, dass ich das Ganze heute beenden sollte.
Ich bin eine Außenseiterin – weder am Leben noch tot. So kann ich nicht weitermachen.
Jetzt stehe ich knapp vor dem Einfassungszaun. Die Leichen beobachten mich, aber sie reagieren nicht so heftig, wie ich es erwartet hatte. Mein Gott, hier draußen hört und fühlt sich alles anders an. Ich habe die letzten beiden Monate entweder unter der Erde versteckt oder fahrend verbracht. Nun kann ich meine Schritte hören, während ich durch das lange, nasse Gras gehe, kann wieder Vögel hören und sehen, wie sie rasch über den Himmel schießen. Ich kann sehen, wie der Wind an den Wipfeln der Bäume zerrt und fühle, wie er um meinen Anzug weht.
Der Regen sprüht, und kleine Wassertropfen spritzen gegen mein Visier. Wenn ich nicht auf die Leichen blicke, dann wirkt alles grün, frisch und klar. Alles, was ich will ist, wieder Luft zu atmen. Seit wir auf die Oberfläche gekommen sind und den Stützpunkt verlassen haben, konnte ich meine eigene Haut nicht berühren. Ich will meine Arme kratzen und meine Nägel beißen, will meine Augen reiben und mit den Fingern durch die Haare fahren. Ich will zum letzten Mal den Wind und den Regen auf meiner Haut spüren.
Kelly Harcourt stand am Rande des Flugfeldes. Sie nahm die Leichen, die nur Meter von ihr entfernt waren, nicht wahr und ignorierte gleichermaßen die wachsamen Augen der Überlebenden im Überwachungsturm hinter ihr, als sie sich die Gesichtsmaske herabriss.
Einen Augenblick lang war die pure Erleichterung überwältigend.
Kühle, frisch schmeckende Luft überschwemmte ihre Lungen und ließ sie sich stärker und um ein Vielfaches menschlicher fühlen, als sie sich seit Wochen empfunden hatte. Sie konnte das Gras riechen und die Verwesung, und es schmeckte tausendmal besser, als sie es in Erinnerung gehabt hatte.
Die Sekunden verrannen und es schien, als sei das Unmögliche eingetreten. War sie immun? Teilte sie durch eine unfassbare Chance mit den Menschen im Gebäude hinter sich dieselben körperlichen Eigenschaften, durch die es ihnen möglich wurde, zu überleben? Zuerst wagte sie nicht, das zu glauben. Wie gering mussten die Chancen sein, so zu überleben? Einen rauschartigen Augenblick war ihr Verstand mit Phantasien davon erfüllt, es doch auf die Insel zu schaffen und tatsächlich eine Art von Existenz zu haben, wo sie doch zuvor nur daran gedacht hatte ...
Es begann.
Es geschah.
Sie wusste, dass es sich darum handelte.
Der Schmerz packte sie aus dem Nichts wie eine Hand, die sich um ihren Hals schloss.
Kellys Kehle begann im Inneren anzuschwellen, brach auf und fing an zu bluten. Während ihre Augen vor Qual und aufgrund der Erstickung hervortraten, fiel sie mit dem Rücken auf das Gras und starrte inbrünstig in den schweren grauen Himmel über sich, ohne wirklich etwas zu sehen.
Dreißig Sekunden später war es vorüber.
28
Die Tatsache, dass er sich zum ersten Mal seit Wochen in einem relativ warmen und bequemen Bett wiederfand, half Michael nicht dabei, einzuschlafen. Dagegen schnarchte Danny Talbot in der Behaglichkeit seiner schmalen Koje auf der gegenüberliegenden Seite des kleinen, quadratischen Schlafzimmers der Hütte. Es war beinahe Mitternacht. In Michaels Kopf hämmerte es und er wünschte
Weitere Kostenlose Bücher