Herbst - Zerfall
Freiheit im nächsten. Nachdem sie sich etwas zu essen und zu trinken beschafft hatten, indem sie die Automaten aufgebrochen – und dabei ein Nest quiekender, fetter Ratten aufgescheucht – hatten, schlug Webb vor zu bowlen. Lange währte das Vergnügen nicht. Die elektronischen Anzeigetafeln blieben natürlich schwarz, und wenn die Kegel und Kugeln über den hinteren Rand am Ende der Bahn kippten, kehrten sie nie zurück. Doch für ein paar flüchtige Augenblicke gelang es Sean, die Augen zu schließen und sich in Erinnerung zu rufen, wie es sich hier angefühlt hatte, als das beruhigend vertraute Rollen der Kugeln über die Bahnen den riesigen Raum erfüllt hatte, gefolgt vom Klappern der umgestoßenen Kegel.
Als alle Kugeln und Kegel verschwunden waren, gaben sie das Bowlen auf, da keiner der beiden Lust hatte, sich in die labyrinthartigen Eingeweide der Bahn hinabzubegeben, um sie zu holen. Stattdessen räumten sie einen Platz in dem mit Teppich ausgelegten Bereich, wo Spielautomaten standen, und zerrten gemeinsam einen Billardtisch dicht zu den großen Fenstern an der Vorderseite des Gebäudes. Während die riesige, orangefarbene Sonne auf den Horizont zusank, spielten sie unter den ausdruckslosen, aber wachsamen Blicken unzähliger toter Gesichter, die sich gegen das Glas pressten, so lange sie konnten, bis sie sich schließlich damit abfinden mussten, dass es Zeit für die Rückkehr ins Hotel war, als das Licht nahezu völlig geschwunden war.
»Wie könnten auch hier bleiben«, schlug Sean vor, als sie sich zum Aufbruch vorbereiteten. »Wir müssen nicht zurück.«
»Ne«, gab Webb rasch zurück. »Ich will mein Bett und mein Bier. Wir können ja morgen wieder herkommen.«
»Morgen können wir hin, wohin wir wollen«, erwiderte Sean, als er auf das Motorrad stieg. Weniger hingegen freute er sich auf die Konfrontation mit dem Haufen elender Jammerlappen, die im Hotel auf sie warteten. In vielerlei Hinsicht bereiteten sie ihm mehr Kopfzerbrechen als die Scharen der grotesken Leichen, die durch die Landschaft wandelten. Egal , dachte er. Wenn sie ihm Schwierigkeiten bereiteten, würde er einfach umdrehen und verschwinden.
Die Welt gehörte ihm, er brauchte sie sich nur zu nehmen.
44
Sean fuhr über das Feld zurück. Der Scheinwerfer des Motorrads schnitt durch die Dunkelheit und erhellte die vor ihnen auftauchenden, willkürlich umherstolpernden Leichen. Auf halber Strecke schaltete er das Licht aus, kurz vor Erreichen der Hecke auch den Motor. Nahezu unsichtbar rollten sie auf das Tor in der Ecke zu. Dabei geriet er leicht vom Kurs ab und landete etwas zu tief auf der anderen Seite des Felds.
»Geh und mach das Tor auf«, zischte er Webb zu, der ihn von hinten umklammerte.
»Was?«
»Mach das verfluchte Tor auf!«
Zögerlich sprang Webb vom Motorrad. Im Schutz der Hecke rannte er blindlings am Rand des Felds entlang los und stieß Leichen aus dem Weg. Als der das Tor erreichte, keuchte er vor Anstrengung. Mit vor Kälte tauben Händen öffnete er den Riegel und zog die Metallflügel auf, wobei er sich einer Schar von Schatten bewusst war, die sich ihm bereits näherte.
»Erledigt!«, rief er und hoffte, dass Sean ihn hörte. Das Anlassen des Motors und das Aufflammen des Scheinwerfers war Bestätigung genug. Das Motorrad raste brüllend auf ihn zu und durch das offene Tor auf die Straße. Dabei erfasste es einen Leichnam, den es wie eine Lumpenpuppe in die Luft schleuderte. Sobald Sean das Tor passiert hatte, warf Webb es zu. Erneut hatte er mit dem unhandlichen Riegel zu kämpfen, zumal es ihm schwerfiel, sich auf das Schloss zu konzentrieren und die unzähligen dunklen Schemen zu ignorieren, die immer näher kamen. Zwei davon wankten klappernd gegen das Tor; die Wucht ihres unkoordinierten Aufpralls ließ Webb zurückzucken und sprenkelte ihn mit verwesenden Fleischbrocken.
Hinter ihm war Sean bereits abgestiegen. Er packte die Kreatur auf der Straße und brach ihr das Genick, überraschte sich selbst durch seine Brutalität. Dann kletterte er in den Wagen, der zuvor die volle Breite des Tors blockiert hatte. Er löste die Handbremse, sprang hinaus und schob das Auto mit Webbs Hilfe ein paar Meter vorwärts, bis das Tor wieder gesichert war.
»Alles in Ordnung?«, fragte er und sah in Webbs Gesicht, das teilweise von einem Schimmer frühen Mondlichts erhellt wurde.
Webb nickte. »Bestens«, grunzte er und schaute zu den mittlerweile etwa zwanzig Leichen zurück, die sich hartnäckig gegen das
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