Herbstbringer (German Edition)
fürchten.
Er verschmolz mit der Nacht.
7
Emily schüttelte den Kopf über sich selbst. Dass sie auch nur für eine Sekunde ernsthaft überlegt hatte, nicht an diesem Ausflug teilzunehmen, erschien ihr längst unverständlich und albern.
Natürlich vermisste sie Jake. Sie vermisste ihn mit jeder Faser ihres Körpers und dachte praktisch ununterbrochen an ihn. Mindestens ebenso sehr freute sie sich aber darauf, ihm von ihren Erlebnissen zu erzählen. Ihr erster Besuch in der St Paul’s Cathedral , das erste Glockengeläut des Big Ben , das endlose Grün des Hyde Park – mit jedem neuen Straßenzug wuchs ihre Begeisterung für diese Stadt. Schon am zweiten Tag fühlte sie sich so heimisch, als hätte sie hier schon mal gelebt. Für sie stand fest: Sie würde so schnell wie möglich mit Jake zurückkehren müssen.
»Okay, ein Museum noch, dann habt ihr es für heute geschafft«, verkündete Mr Beacon, als sich die U-Bahn-Türen von Holborn öffneten. Es war bereits später Nachmittag, und selbst Emily war nicht mehr allzu sehr für das British Museum zu begeistern. Erschöpft schleppte sie sich ihren Klassenkameraden hinterher, auf endlosen Wegen durch die verzweigten Tunnelsysteme von Londons Unterwelt.
Sophie lief weiter vorne bei ihren neuen Freundinnen Sarah und Lucy. Irgendetwas lenkte Emily ab. Einen kurzen Moment lang blieb sie stehen, um sich verwirrt umzusehen. Schon war es passiert: Sie hatte ihre Gruppe aus den Augen verloren. Dann wurde ihr bewusst, was sie abgelenkt hatte: Beinahe unmerklich schlängelte sich eine Melodie durch die hektischen Schritte der Geschäftsleute und das angeregte Gemurmel der vorbeieilenden Pendler. Gebannt lauschte sie den klagenden Geigentönen, die auf zauberhafte Weise ihr Ohr erreichten. Wie bei ihrem ersten Kuss berührte die Musik sie auf eine Weise, die ihre Umwelt vollständig ausblendete. Sie lief los, suchte nach dem Ursprung dieser Musik. Die Melodie lockte sie an, sie konnte nichts dagegen tun.
Sie hastete durch das Labyrinth, passierte eine Kreuzung nach der anderen und hatte sich schon nach der dritten Biegung hoffnungslos verirrt.
Doch alles was zählte, war die Musik.
Immer klarer und lauter drangen die lang gezogenen Töne an ihr Ohr, während sie tiefer und tiefer in Londons Eingeweide vordrang. Sie bemerkte nicht, dass der Strom der an ihr vorbeihastenden Menschen stetig schmaler wurde und schließlich ganz versiegte. Schon eilte sie allein durch die endlosen hallenden Gänge, bemerkte gar nicht, dass vergilbte Plakate Konzerte ankündigten, die schon vor vielen Jahren stattgefunden hatten.
Plötzlich blieb sie stehen. Das dröhnende Echo ihrer Schritte hatte die Musik übertönt. Keuchend sah sie sich um, ratlos, wo sie sich befand. Das Licht war hier deutlich schwächer, weit und breit war niemand zu sehen.
Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, drang die Geigenmelodie wieder an ihr Ohr – diesmal aus unmittelbarer Nähe. Wer es auch war, der diese wunderschönen Töne durch diese unterirdische Welt schickte … er konnte nicht weit entfernt sein.
Ein kalter, modriger Wind schlug Emily entgegen, als sie um eine Ecke trat und in einen stockdunklen Korridor blickte. Die von unbeschreiblicher Trauer umspülte Melodie musste direkt aus der Dunkelheit vor ihr kommen. Unsichtbare Hände packten sie, lautlose Verlockungen trieben sie weiter in das lichtlose Nichts vor ihr.
Da geschah es.
Etwas packte sie am Arm und zog sie weg. Weg von der Musik, weg von der Finsternis.
Die wenigsten hatten das Mädchen gekannt, das einmal der Herbstbringer werden würde. Balthasar war einer von ihnen. Er wusste nicht, warum sie rebelliert hatte. Er wusste nur, was ihretwegen geschehen war.
Seit Jahrhunderten schon war er als Einzelgänger unterwegs und legte ein selbst für Vampire seines Standes erstaunlich kommunikationsscheues Verhalten an den Tag. Niemand wusste, wo er tatsächlich wohnte. Der Herbstbringer bedeutete für ihn eine Chance, die ihm vielleicht nie wieder zufallen würde. Er musste sie um jeden Preis vor allen anderen erwischen. Auch wenn das bedeutete, dass er sich mit diesem armseligen Opa und Schnüffler abgeben musste, der allem Anschein nach sogar große Stücke auf sich und seine Entdeckungen hielt.
Was man nicht alles auf sich nahm.
Die dunkle Limousine näherte sich Woods End geräuschlos wie ein Wolf, der sich an eine Schafherde heranpirscht.
»Vertrau mir. Nur wenn du mir vertraust, kann ich dein Leben retten«, hauchte
Weitere Kostenlose Bücher