Herbstbringer (German Edition)
gefallen. Und Highgate erst – der schönste Friedhof der Welt!«
»Aber du … du wirst mir fehlen«, flüsterte Emily schüchtern und berührte Jake an der Hand.
»Du mir auch, kleines Herbstmädchen. Aber es ist ja nur ein Wochenende. Und nächste Woche geht alles wieder seinen gewohnten Gang.«
Emily hatte zur Vorbereitung auf die Klassenfahrt den Reiseführer ihrer Eltern zu Hause gelesen und sich ein Buch über die Geschichte der Stadt eingesteckt.
»Willst du jetzt wirklich dieses langweilige Buch lesen?«, fragte Sophie ungläubig, während sich um sie herum im Bus die typische Geräuschkulisse entfaltete. Immerhin redete sie wieder mit Emily.
»Eigentlich schon, doch«, entgegnete Emily irritiert. »Wieso, hast du eine andere Idee?«
Sophie verdrehte die Augen. Immer wenn sie das tat, wusste Emily, dass sie sich anders benahm als der Rest der normalen Welt.
»Spaß haben vielleicht?« Ihr Tonfall verriet, dass dies sonnenklar sein müsste. »Ich setze mich zu Sarah und Lucy. Sie haben mir vorhin gesteckt, dass sie irgendwas zu trinken dabeihaben.«
Emily vertiefte sich in ihr Buch. Gemächlich ließ der Bus Woods End hinter sich.
Lange bevor sie die Jugendherberge erreichten, hatte Emily ihr Buch weggelegt und klebte mit dem Gesicht an der Scheibe. So groß hatte sie sich London niemals vorgestellt! In alle Richtungen erstreckte sich die Stadt wie ein ausgekippter Spielzeugeimer, bis zum Horizont konnte sie Bürotürme, Hochhäuser, Kirchen und Baukräne ausmachen, die das tiefgoldene Licht der Herbstsonne auf tausend Oberflächen spiegelten.
Dann überquerten sie die Tower Bridge . Der Blick über die majestätisch dahinfließende Themse und den trutzigen Tower of London war dafür verantwortlich, dass sie sich augenblicklich in diese Stadt verliebte. Sie erkannte unzählige alte Gebäude, über die sie gelesen hatte, und entdeckte dabei viele weitere wunderschöne, über die sie noch nichts wusste. Sie konnte es kaum erwarten, diese Stadt zu erkunden.
Kurz nach der Ankunft startete das offizielle Programm. Die Stadtrundfahrt begeisterte Emily.
London Bridge , die erste Brücke über die Themse, Trafalgar Square mit seinen unzähligen Tauben und dem stolzen Admiral Nelson, die Westminster Abbey , letzte Ruhestätte von Charles Dickens oder Geoffrey Chaucer … als der Bus sie zwei Stunden später wieder vor ihrer Unterkunft ausspuckte, hatte Emily erst so richtig Appetit auf die Stadt bekommen.
Michael schritt unruhig auf und ab. Wut und Unsicherheit lieferten sich auf seinen Zügen eine Verfolgungsjagd.
»Auch du, Balthasar«, seufzte er mit einem gewissen Hang zu Melodramatik, blieb kurz über dem nächtlichen Lichterozean Londons stehen und trabte dann weiter durch den hohen Raum. Nachdem er die Änderung in seinem Testament vorgenommen hatte, hatte er versucht, sich mit einem Glas besonders feinen Blutes zu beruhigen. Vergeblich. Balthasar hatte sich gegen ihn gestellt. Er dürstete nach Macht, und alles andere hätte Michael auch nicht verstanden. Er hatte es einst genauso getan – mit dem Unterschied, dass er erfolgreich gewesen war.
Der letzte Rest der Flüssigkeit floss zäh in seinen Mund. Einen Moment lang schloss er genussvoll die Augen. Oh ja, Blut war wichtig. Es war das beste Rauschmittel, das man sich vorstellen konnte. Hätte er eine Seele gehabt, er hätte diejenigen bedauert, die es tatsächlich zum Überleben brauchten wie ein Fisch das Wasser. Die ihren Durst an Tieren, Kadavern und Kindern stillten. Untote – von Vampiren durch einen Biss und ein wenig von ihrem Blut zu seelenlosen Kreaturen gemacht. Es war Ironie des Schicksals, dass diese unwürdigen Kreaturen noch immer als Paradebeispiel für Vampire herhielten. Als er am Bücherregal vorbeilief, fiel sein Blick auf Bram Stokers Dracula . Auch ein Untoter. Michael selbst hatte den jungen Bram von seiner Kinderlähmung geheilt, als die Ärzte ihn schon aufgegeben hatten. Sie sprachen von einem Wunder, er bekam aus Dankbarkeit den bis heute wichtigsten Vampirroman.
Er hatte die Macht verdient. Die Welt würde sich sehr schnell an ihren neuen Herrscher gewöhnen, dessen war sich Michael sicher. Oder, um es mit den Worten des Kaisers Caligula zu sagen: »Oderint dum metuant«. Sollen sie mich hassen, solange sie mich fürchten.
»Radcliffe«, bellte er, als er den Raum verließ. »Bereite alles vor. Diese Nacht brütet Verrat aus.«
Balthasar mochte ihn hassen, ja. Doch schon sehr bald würde er ihn vor allem
Weitere Kostenlose Bücher