Herbstbringer (German Edition)
Buchrücken.
»Hier, schau dir das mal an.« Jake zeigte auf einen ausgerissenen Zeitungsausschnitt.
»Oh nein, nicht schon wieder ein Zeitungsartikel!«, stöhnte Emily.
Ein kleiner Kasten informierte über ein junges Mädchen, das eine Woche zuvor in der Natur aufgegriffen und in das nahe gelegene Waisenhaus gebracht worden war. Es folgten eine kurze Personenbeschreibung samt Foto sowie der dringende Aufruf an alle Leser um Mithilfe bei der Identifizierung des gedächtnislosen Mädchens.
»Niemand hat sich gemeldet«, murmelte Jake. »Ein Mädchen verschwindet, wird nackt und ohne Gedächtnis gefunden, und niemand hat sie gekannt? Mal ehrlich, wie kann so was denn sein?«
»Wüsste ich auch gern. Die Polizei war mehrfach bei mir, es wurden Aufrufe im Internet gestartet. Ein paarmal waren Leute im Waisenhaus, die glaubten, mich auf dem Foto erkannt zu haben. Alle hatten sich geirrt. Das war kein schönes Gefühl. Komm, mal sehen, was wir noch entdecken.«
Als Emily den Zeitungsausschnitt beiseitegelegt hatte, sprang Jake ein Artikel auf der Rückseite ins Auge.
»Hm, seltsam«, sagte er.
Dann sah es auch Emily: Unter der Wettervorhersage berichtete eine Randnotiz von dem unerwarteten Einzug des Herbstes in der Gegend.
6
Aaron hatte gelogen. Seines war nicht das letzte Gesicht, das Barnard Graham in seinem Leben sehen würde. Leider. Er wusste, dass er den alten Mann lebend zu Balthasar bringen musste, wenn er sich auch weiterhin an der Vorstellung erfreuen wollte, schon bald als Balthasars rechte Hand an ungeahnte Macht zu kommen. Schon lange schielte Balthasar auf die Herrschaft. Der Herbstbringer, da war sich Aaron sicher, sollte ihm den Sturz Michaels ermöglichen.
Dafür spielte er gern den Lakaien.
Es war hochinteressant gewesen, die Ränkespiele in den letzten Jahren mitanzusehen. Immer aus sicherer Entfernung, versteht sich. Das fand Aaron nicht feige, sondern vor allem weise. Jeder der vier Clans kämpfte um die Vorherrschaft, niemand erwies sich als überlegen genug, diese auch anzutreten. Da hielt er sich nur zu gern heraus. Es war ein stetig schwelender Zustand, der durch das Wissen einiger eingeweihter Menschen noch erschwert wurde. Zweifellos hatte der Herbstbringer die Vampirwelt in arge Bedrängnis gebracht. Die Uneinigkeit hatte ihre Stärke gebrochen, die nun wiederhergestellt werden sollte – zumindest für eine der Familien. Und Aaron wollte verdammt sein, wenn er Balthasar nicht zum Thron verhelfen konnte.
»Wa… was wollen Sie von mir?«, stotterte der Alte.
Immer noch diese Frage. Aaron setzte sich auf die Bettkante und schaute übertrieben lange auf die Uhr. Schade, ihm blieb nicht mehr viel Zeit zum Spielen. »Dir ist bewusst, dass ich dasselbe fragen müsste?«
Der Bibliothekar erbleichte. Wissen dämmerte auf seinen Zügen. »Sie … Sie sind ein …«
»Bravo«, lobte Aaron den Vampirjäger. »Dann kannst du dir ja bestimmt denken, was ich jetzt mit dir vorhabe.«
Angespannt wartete Emily am Montag in der großen Pause auf Jake. Eine Nacht mit noch weniger Schlaf als gewöhnlich lag hinter ihr – als würde sie mit jeder Woche weniger davon benötigen. Dass er zu spät kam, war nicht seine Art. Endlich, fast zehn Minuten nach Beginn der Pause, tauchte er auf. Er sah müde aus, bei Emilys Anblick huschte ihm jedoch ein ehrliches Lächeln über das Gesicht.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Emily. »Du siehst müde aus.«
»Ich hab kaum geschlafen«, gähnte Jake.
»Warum?«
»Ach, wahrscheinlich ohne Grund. Mein Großvater ist gestern nicht zurückgekommen, wie er es eigentlich vorhatte. Das passiert zwar regelmäßig, aber normalerweise ruft er wenigstens kurz an. Vielleicht gab es ja kein Telefon, und alle Brieftauben waren schon beschäftigt, oder so.« Der Scherz gelang ihm nicht. »Wenn er sich nur endlich mal ein Handy zulegen würde wie jeder normale Mensch …«
»… jeder normale Mensch?«, fragte Emily spitz.
»Ups«, machte Jake unbeholfen. Diesmal grinsten beide.
Sie wandten sich der bevorstehenden Klassenfahrt nach London zu. Donnerstag sollte es bereits losgehen, im Licht der letzten Ereignisse hatte Emily es jedoch völlig vergessen. Obwohl sie die Erlaubnis ihrer Eltern abgegeben hatte, wusste sie noch immer nicht, ob sie mitfahren sollte.
»Mir hat es letztes Jahr echt gut gefallen«, sagte Jake. »Klar war nicht alles interessant, aber der Tower , das Globe Theatre und all die Plattenläden haben echt Spaß gemacht. Wird dir bestimmt auch
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