Herbstbringer (German Edition)
Passanten wieder an ihr Ohr wie eine heraufziehende Flut.
Mit ihnen wurde jede Erinnerung an diese Begegnung weggewischt.
Emily blickte ungläubig auf den Zettel in ihrer Hand.
Nicht jede Erinnerung.
Barnard Graham wusste, dass er in großen Schwierigkeiten war. Und er war nicht allein damit. Nach allem, was er über die Legende des Herbstbringers wusste und von Balthasar hatte aufschnappen können, stand nur noch dieses Mädchen zwischen der Menschheit und einer schrecklichen Bedrohung.
Er wusste, was er zu tun hatte. Und mit ziemlicher Sicherheit würde sein Plan scheitern.
Woods End war nur noch wenige Meilen entfernt. Wenn er jetzt nicht handelte, würde er sich das nie verzeihen – ganz gleich, in welchem Jenseits er gleich zu sich kommen würde. So schnell es sein Alter zuließ, öffnete er die Tür, um sich aus dem fahrenden Wagen fallen zu lassen.
»Netter Versuch«, flüsterte ihm Balthasar zu. Selbst im Angesicht des sicheren Todes konnte Barnard Graham über die Schnelligkeit dieser Wesen nur staunen. Blitzschnell biss Balthasar zu.
»Wir haben die Fährte des Mädchens längst aufgenommen. Dein Tod war völlig umsonst.«
Barnard Graham starb ohne einen Laut.
Nachdem sich die Aufregung um Emilys Verschwinden gelegt hatte und sie zum hundertsten Mal erklären musste, wie sie nach Verlassen der U-Bahn falsch abgebogen war, ging es für die Klasse zurück in die Jugendherberge. Das British Museum wurde ihretwegen kurzerhand abgeblasen, Emily in den Augen ihrer Klasse zur eindeutigen Retterin des Tages deklariert.
Sie konnte sich nur bedingt darüber freuen. Nachdem sie den Zettel zunächst hastig in ihrer Manteltasche verstaut hatte, holte sie ihn erst wieder hervor, als sie nach dem Abendessen allein auf ihrem Zimmer war. Sophie und die anderen saßen noch im Aufenthaltsraum, sie hatte sich nach einigen lieblos heruntergewürgten Happen mit der Entschuldigung verabschiedet, durch den Schreck noch etwas schwach auf den Beinen zu sein. Sie konnte ein wenig Einsamkeit gebrauchen.
Nachdenklich blickte sie auf den zerknitterten Zettel auf ihren Knien. War das vorhin wirklich passiert? Obwohl dieser Fetzen Papier dafür sprach, erschien es ihr reichlich unglaubwürdig. Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden: Sie musste die Adresse aufsuchen, die auf dem Zettel vermerkt war – und sich dafür im Schutz der Dunkelheit aus der Jugendherberge schleichen.
Bevor Sophie und ihre neuen Freundinnen zurückkamen, hatte sie die Adresse mithilfe ihres Reiseführers ausfindig gemacht. Es war offensichtlich gar nicht weit von ihrer Unterkunft entfernt – und doch fühlte es sich an wie eine Reise in eine andere Welt, als sie sich irgendwann nach Mitternacht auf leisen Sohlen aus dem Haus schlich.
Aufgewirbelte Blätter folgten ihr auf ihrem einsamen Weg durch die Nacht. Ihre Gedanken wanderten zu Jake, während sie durch die Straßen Londons streifte. Was er wohl gerade trieb? Hörte er Musik in seinem Zimmer? Las er? Machte er vielleicht auch gerade einen Spaziergang durch die Nacht? Und was würde er davon halten, wenn er wüsste, dass sie gerade drauf und dran war, sich mitten in der Nacht irgendwo in London mit einem wildfremden Typen zu treffen?
Sie bog um eine Ecke. Und lief fast in das Ende einer langen Schlange ungeduldiger Menschen, die darauf warteten, in das Gebäude am Ende der Straße eingelassen zu werden. Das eine oder andere teure Auto vor dem Eingang, die rote Kordel mit dem massigen Türsteher und die elegante Abendgarderobe der Wartenden verrieten selbst einem Mädchen wie Emily, dass der vereinbarte Treffpunkt ein angesagter Nachtklub sein musste.
Na toll! Wie um alles in der Welt sollte sie, ein junges Mädchen in einer dunkelblauen Cordjacke und einer braunen Schlaghose, nach Mitternacht in diesen Laden kommen? Sie hatte wahrscheinlich nicht mal genug Geld, um den ohne Zweifel beachtlichen Eintrittspreis zu bezahlen.
Und doch hatte ihr jemand namens Elias diesen Ort für ihr Treffen vorgeschlagen. Zum tausendsten Mal schielte sie auf den zerknüllten Zettel in ihrer Hand. Kein Zweifel. Sie war bei der richtigen Adresse. Unsicher lief sie an der Schlange vorbei, immer darauf vorbereitet, wegzurennen, falls man sie fragte, was sie hier zu suchen habe. Doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen passierte etwas, das sie am wenigsten erwartet hätte: Sie wurde hereingelassen. Und nicht nur das. Der einschüchternd wirkende Riese mit dem Headset schien sie zu erwarten . Sehr
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