Herbstbringer (German Edition)
zum Erstaunen der wartenden Gäste schenkte er Emily ein breites Lächeln, streckte ihr eine riesige Pranke entgegen und öffnete mit der anderen die Absperrung.
»Willkommen«, brummte er und schob sie durch die geöffnete Tür in eine andere Welt. Die ureigene Atmosphäre eines vollen Nachtklubs eilte Emily gleich doppelt zur Hilfe: Die Dunkelheit vertuschte erfolgreich ihren perplexen Gesichtsausdruck, die lauten Bässe überspülten das Genörgel der wartenden Menschen vor der Tür.
8
Ein Gerücht bahnte sich seinen Weg durch die Straßen und Gassen der Metropole. Wo es eine kurze Rast von den Mühen der Reise einlegte, stieß es auf gespitzte Ohren und begierige Zuhörer. Ein gutes Gerücht hat es immer leicht, sich Gehör zu verschaffen.
Vor vielen Jahrhunderten hatten die Menschen in den großen Städten das Sprichwort geprägt, nur ein Gerücht verbreite sich schneller als die Pest. Auch die vier Ersten der Vampirwelt hatten dieses Sprichwort nicht vergessen.
Das Gerücht hatte auch ihre Ohren erreicht.
Seltene Eintracht herrschte unter Michael, Gabriel, Uriel und Raphael. Ihnen gefiel nicht, was sie hörten. Nicht nur, weil sie nicht die Ersten gewesen waren, die davon Wind bekommen hatten. Ihnen gefiel es nicht, weil es nicht in ihren Plan passte. Und was den vier Ältesten nicht in den Plan passte, durfte eigentlich gar nicht existieren. Schließlich waren sie es, die am Anfang dieser Welt standen.
Unruhe breitete sich wie in konzentrischen Kreisen aus, wurde hastig weitergereicht wie eine zu heiße Schüssel. Ihr auf den Fersen befand sich das Gerücht, emsig darauf bedacht, auch den letzten Winkel der Stadt zu erreichen.
Man sagte, der Herbstbringer hielte sich in London auf. Und niemand wusste, wo.
Fast niemand. Es gab jemanden, der es vor allen anderen gewusst hatte. Auch wenn es Zufall gewesen war – Elias redete sich ein, das Mädchen instinktiv in den Tunneln gespürt zu haben.
Es war nur nicht wie bei anderen seiner Art gewesen. Nicht, dass ihm diese Beobachtung Kopfzerbrechen bereitet hätte. Nach allem, was dieses Mädchen getan hatte, wäre es wahrscheinlich enttäuschender gewesen, überhaupt nichts zu fühlen. Dass sie es war, bezweifelte er keine Sekunde. Diese Augen hatte er auch nach all den Jahren nicht vergessen. Es waren dieselben tiefen Ozeane, in die er zuletzt vor hundertachtzig Jahren geblickt hatte. Es war eine Ewigkeit her, und doch erinnerte er sich daran, als wäre es erst gestern gewesen. Ihre Schönheit war unvergänglich wie der Tod.
Als er sie orientierungslos neben der Tanzfläche entdeckte, konnte er noch immer nicht glauben, dass er sie tatsächlich gefunden hatte. Sie schien sich nicht an ihn zu erinnern, doch damit hatte er gerechnet. Er wusste, welche Auswirkungen diese Strafe auf den Verstand haben konnte – selbst bei einem außergewöhnlichen Fall wie ihr. All die Jahre unter der Erde … wahrscheinlich war es ein Wunder, dass sie überhaupt lebensfähig war.
Die Erinnerungslücken waren definitiv das geringste Problem. Er kannte Mittel und Wege, die Leere in ihrem Geist mit Wahrheit zu füllen. Nur eines bereitete ihm Unbehagen: Wie würde sie verkraften, was er ihr zu zeigen hatte?
Längst hatte Woods End die Bürgersteige hochgeklappt, als zwei dunkle Gestalten durch die Straßen streiften. Die meisten Bewohner des kleinen Städtchens schliefen bereits oder hielten sich in ihren kleinen gepflegten Häuschen hinter kleinen gepflegten Vorgärten auf. Die Straßen waren vom bleichen Licht vereinzelter Straßenlaternen erleuchtet.
»Scheußlich, wie langweilig und sauber es hier ist«, knurrte Aaron. Er rümpfte die Nase, als sie durch die überschaubare Ladenzeile marschierten, eine Geste, die Balthasar für ziemlich überzogen hielt. Wie so vieles an seinem Begleiter: Es fehlten lediglich mit Pomade nach hinten geschleimte Haare, um aus Aaron mit seiner verschlissenen Lederjacke den Charakter aus einem rebellischen James-Dean-Film der Fünfziger zu machen. Sogar das Kleinstadtszenario passte. Einfach lächerlich.
»Denn sie wissen nicht, was sie tun«, flüsterte er kopfschüttelnd.
»Wer weiß was nicht?«
»Vergiss es. Konntest du schon Witterung aufnehmen?«
»Das könnte kompliziert werden. Die ganze Stadt stinkt nach Herbst, als würde sie aus verfaulendem Laub bestehen.«
Balthasar blickte sich um. Für ihn stellte die Dunkelheit kein Hindernis dar. Wachsam glitt sein Blick durch die düsteren Straßen.
Aaron hatte recht. Schon auf
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