Herbstbringer (German Edition)
sie an der Bushaltestelle warteten. »Ich bin mir sehr sicher, dass wir nicht umsonst hier waren.«
»Viel herausgefunden haben wir aber nicht gerade, oder? Ich habe keinen blassen Schimmer, wie mir die Information, dass ich völlig nackt an einem Fluss gefunden worden bin, weiterhelfen soll. Du etwa?« Die Frage entfuhr ihr schärfer als beabsichtigt.
Betreten schüttelte Jake den Kopf. »Nein … natürlich nicht. Ich dachte nur …«
»Tut mir leid«, sagte Emily und umarmte ihn. »Ich bin froh, dass wir hierhergekommen sind. Fahren wir eben noch mal her. Vielleicht hast du ja Glück, und Schwester Mary hat keinen Dienst.«
»Nö, ich denke nicht, dass ich diese Fahrerei noch mal mitmache«, schnappte Jake.
Bestürzt schaute ihn Emily an. »Hey, ich hab es wirklich nicht so gemeint.«
»Ich schon!« Er grinste breit und zog eine dicke ledergebundene Mappe aus seiner Tasche. »Hier, für dich.«
»Was ist das?«, fragte Emily verwundert.
»Na los, mach sie auf.«
Zögernd nahm sie die schwere Mappe entgegen und öffnete sie.
»Jake!«, keuchte sie entsetzt, als sie realisierte, was sie da in den Händen hielt. Es war ihre Akte aus dem Sheltering Tree .
Bevor sie etwas sagen konnte, bog der Bus um die Ecke. Schnell verstaute Jake die Akte wieder in seiner Tasche. Kaum hatten sie es sich ganz hinten im Bus so bequem wie möglich gemacht, lag die Mappe bereits geöffnet auf Emilys Schoß.
»Das ist Diebstahl«, hauchte sie. Er hatte ihre Akte aus Mr Abtrees Büro gestohlen. Er war dieses Risiko nur für sie eingegangen! Sie konnte gar nicht sagen, wie gut sich das anfühlte.
Sie küsste ihn dankbar, um sich dann mit angehaltenem Atem den Dokumenten zuzuwenden.
Innerhalb einer einzigen Busfahrt lernte Emily mehr über sich und ihr bisheriges Leben, als sie jemals zu hoffen gewagt hatte.
Im Tatsachenbericht des Bauern, in grober Handschrift verfasst, erfuhr Emily, dass er am nächsten Morgen das Flussufer abgesucht hatte und nahe ihrem Fundort auf einige verwitterte Holzstücke gestoßen war, die die starken Regenfälle vermutlich aus dem weichen Boden herausgespült hatten. Er erwähnte außerdem einige symbolartige Markierungen auf einem der Hölzer, ging jedoch nicht näher darauf ein. Aufklärung brachte ein wissenschaftlicher Bericht am Ende ihrer Akte, der das Alter der Holzstücke auf über zweihundert Jahre festlegte und in dem Symbol auf einem der Stücke ein klassisches Laubornament vermutete. Außerdem waren einige verwitterte Worte einer Inschrift zu erkennen. Clouds beyond, clouds above me …
Wie damals in Abtrees Büro durchzuckte es Emily, als sie beim Lesen der Untersuchungsergebnisse an den unvermittelt welkenden Baum in Woods End denken musste.
Ein Laubornament …
Ähnlich gebannt las sie von einer Therapiesitzung wenige Tage nach ihrem ersten Erwachen im Waisenhaus, in deren Verlauf sie hypnotisiert worden war. Die Frage nach ihrer Herkunft beantwortete sie in drei Versuchen immer verschieden, sprach von England, Schottland und sogar Frankreich, lieferte dabei aber bis auf eine Ausnahme veraltete Ortsnamen. Auch wenn sie viele Fragen gar nicht beantworten wollte oder konnte, gelangen dem Therapeuten hin und wieder Glückstreffer, die im Sitzungsprotokoll farbig hervorgehoben waren.
Welches Kleidungsstück hast du zuletzt getragen? , sprang ihr rot umrandet ins Auge. Das hörte sich interessant an.
Meine Eltern haben mir gesagt, dass ich das weiße Kleid anziehen soll. Ich habe es nie besonders gemocht, weil es am Bauch sehr eng war und ich darin außerdem nur sehr schlecht laufen konnte. Aber ich musste es anziehen, Vater duldete auch hier keine Widerrede.
Warum auch immer sie dieses furchtbare Kleid hatte tragen müssen: Emily konnte es sich keinesfalls verübeln, es bei der erstbesten Gelegenheit ausgezogen zu haben.
»Klingt nach strengen Eltern«, bemerkte Jake, als er ihre Antwort gelesen hatte.
»Aber wenigstens klingt es nach Eltern!« Der erste mögliche Hinweis auf ihre leiblichen Eltern – nach über zwei Jahren.
Mit wachsender Aufregung blätterte sie durch ihr sorgfältig dokumentiertes Waisenhausleben. Gesundheitschecks, schulische Leistungen, psychologische Gutachten und ähnliche Unterlagen machten den Löwenanteil der Akte aus, erwiesen sich bis auf wenige Ausnahmen aber als nichtssagend. Trotzdem war es ein schwer zu beschreibendes Gefühl, diese Akte zu durchsuchen, die alles enthielt, was über ihr Leben bekannt war. Handlich verpackt zwischen zwei
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