Herbstbringer (German Edition)
gewesen. Wie schnell er an diese Information gekommen war, machte es besonders schmerzlich. Dabei hätte er nicht gedacht, jemals derartige Fragen stellen zu müssen. Er, Michael, Anführer der ersten Vier, Träger des Flammenschwertes. Verraten, hintergangen, ausgespielt?
Die Zeiten hatten sich wirklich geändert. Auf was konnte er sich noch verlassen? Erst Balthasar, dann das Orakel … die ganze Stadt schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Und jetzt tauchte urplötzlich Nosophoros auf. Sein Kommen verhieß nichts Gutes.
Er trat so nah an den Abgrund heran, dass die Spitzen seiner italienischen Designerschuhe bereits in der Leere schwebten. Wie Ameisen wuselten die bedeutungslosen Menschen dort unten herum. Er rang mit seiner regelrecht kultisch verehrten Contenance und gewann die Auseinandersetzung nach einigen besonders geschmacklosen Verwünschungen. Es musste viel passieren, bis Michael die Fassung verlor. Mittlerweile hatte er die Auswahl.
Er würde etwas unternehmen. Noch heute Nacht. Mit Uriels Rückkehr hatte er das letzte Stückchen Vorsprung verspielt, das ihm noch geblieben war. Er würde nicht tatenlos zusehen, wie sich die Dinge ohne sein Zutun entwickelten. Zu lange hatte er sich auf die Loyalität anderer verlassen. Vergeblich. Nun galt es zu handeln. An Nosophoros versuchte er gar nicht erst zu denken. Ein Problem nach dem anderen. Ruckartig wandte er sich von dem wabernden Lichtermeer unter sich ab.
Wenig später saß Michael in einem schwarzen Taxi zur Monument-Säule. Es würde das letzte Mal sein, dass er diesen Ort aufsuchte.
Der große Garten war der erste Ort gewesen, an dem sich Emily nach ihrer Ankunft bei den Lancehearts richtig heimisch gefühlt hatte.
Hohe Hecken, die alte, efeuberankte Vogeltränke, die angemessen knarzende Schaukel, verwitterte Baumstümpfe und natürlich der direkt an das Grundstück grenzende Wald.
Sie war barfuß. Behutsam trat sie einige Schritte unter die Bäume. Sie spürte, dass etwas anders war. Der Wind zerzauste ihr Haar und lockte sie in den Wald.
Bereitwillig ließ sie sich treiben, bis sie eine knorrige, verwitterte Eiche vor sich aufragen sah.
Sie wusste, dass sie nicht weitergehen musste. Erwartungsvoll stand sie in der Dunkelheit und wartete. Wartete auf etwas, das vielleicht nur in ihrer Fantasie existierte.
Dann hörte sie die Stimme.
Die Monument-Säule reckte sich starr in den Himmel wie der mahnend erhobene Zeigefinger eines versteinerten Riesen. Michael hatte sie nie gefallen. Bis heute hatte sie ihn immerhin an das herrliche Feuer erinnert – jetzt war sie lediglich ein Ort des Verrats.
Während er aus dem Taxi stieg und auf den Turm zuschritt, wurde ihm bewusst, wie oft er das unterirdische Gewölbe bereits betreten hatte. Die Momente, in denen ihm das Verrinnen der Zeit derart eindringlich vor Augen geführt wurde, waren selten geworden. Zeit war bedeutungslos. Er wusste, dass er schon viel zu lange auf dieser Welt wandelte. Und doch fragte er sich manchmal, wo die Zeit geblieben war.
Jahrhunderte, nachdem er das Kellergeschoss das erste Mal betreten hatte, stieg er ein letztes Mal die breiten Steintreppen in die Finsternis hinab. Das Orakel gab heute keine Audienz. Michael war es so egal wie nie. Er wusste, dass es nie wieder Besuchszeiten geben würde. Dieser Gedanke überraschte ihn. Nicht, weil er sich einer unschönen Sache derart sicher war, das passierte sehr häufig. Es überraschte ihn, weil in dieser Gewissheit ein Gefühl mitschwang, das er komplett vergessen hatte.
Wehmut.
Das Gefühl schmeckte fremd und zur selben Zeit vertraut, wie der charakteristische Geruch im Flur eines längst verlassenen Hauses. Nachdenklich blickte er die Monument-Säule empor. So schwach eine Gefühlsregung wie Wehmut auch sein mochte: Er empfand sie dem Anlass durchaus angemessen und kostete sie einige ungewohnte Augenblicke aus. Er hatte sich derartige Gefühle nicht absichtlich abgewöhnt. Sie vertrugen sich einfach nicht sonderlich gut mit Intrigen, Hetzjagden und Morden und hatten sich irgendwann einfach verabschiedet.
Bis jetzt.
Das Orakel war Michaels älteste Vertraute, ein Fels im ewigen Gezeitenwechsel. Von den Vampiren, die heute noch auf dieser Erde wandelten, reichte nur seine Beziehung zu den übrigen drei Ältesten weiter in die nebelumrankte Vergangenheit zurück.
Entschlossen betrat er das Denkmal.
Levana , rauschten die Bäume.
Sie rührte sich nicht.
Levana , wisperte der Wind.
Sie hielt den Atem
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