Herbstbringer (German Edition)
gekommen. Michael atmete tief durch. Dies würde selbst für ihn nicht einfach werden. Entschlossen stieg er aus, ein wohlhabend wirkender Mann ohne Begleitung, der zielstrebig das Palm Beach Casino in Mayfair betrat.
Es war noch kein Wort gesprochen worden. Seit sich die beiden Herren vor einer Stunde an einem reservierten Tisch im ruhigen hinteren Teil des kasinoeigenen Restaurants niedergelassen hatten, schwiegen sie sich an. Die Eiswürfel in den unberührten Drinks waren längst geschmolzen. Die Vampire nahmen keine Notiz davon.
Sie schwiegen. Doch sie kommunizierten.
Die Stadt ist noch hässlicher als einst.
Wieso bist du dann hier?
Auf rhetorische Fragen habe ich noch nie geantwortet.
Was willst du? Wozu dieses Treffen?
Du weißt, dass ich alles tun würde, um diesen Fehler vergessen zu machen. Ich werde mir zurückholen, was ihr mir genommen habt.
Was sie dir genommen hat. Wir haben lediglich reagiert. Du hättest es nicht anders gemacht.
Wahrlich. Dann weißt du auch, was jetzt kommt. Überlasse sie mir. Zeige etwas von deiner einstigen Größe, und gib mir die Möglichkeit, wieder zu euresgleichen aufzusteigen. Mehr verlange ich nicht. Das Gleichgewicht wäre wiederhergestellt. Wir könnten gemeinsam regieren. Wie einst, als wir Göttern gleich über den Menschen thronten.
Michael hatte es kommen sehen. Bedächtig nippte er an seinem Brandy. Uriel reagierte vollkommen nachvollziehbar. So bemitleidenswert es war, derart viel Macht auf einen Schlag zu verlieren, war es doch nur eine Regel, die sie befolgt hatten. Niemandem wäre es anders ergangen. Niemand hätte Gnade erfahren. Und dabei war Uriels Familie nicht einmal vollständig ausgelöscht worden.
Was hast du anzubieten? Michael fragte lediglich aus Interesse. Seine Antwort stand felsenfest in Stein gemeißelt.
Dasselbe, was ich den anderen beiden angeboten habe.
Du hast sie schon gefragt?
Rhetorische Frage …
Was haben sie gesagt? Michaels Anspannung wuchs. Sie konnten doch unmöglich eingewilligt haben? Schon in der Vergangenheit hatte es Uriel meisterlich verstanden, die Kontrolle einer Situation Stück für Stück zu seinen Gunsten zu verlagern.
Natürlich gebe ich das nicht preis.
Ich glaube dir nicht.
Musst du auch nicht. Wie lautet deine Antwort?
Du weißt, wie sie lautet. Wie könnte sie anders lauten?
Uriel seufzte. Was ist aus der Ehre geworden?
Es gab sie nie. Vor einer Handvoll Jahrhunderte hätte Michael über diese Bitte zumindest nachgedacht. Heute nicht mehr. Der Herbstbringer hatte alles verändert. Längst war es unvorstellbar geworden, dass die Vier wieder Seite an Seite über die Welt der Menschen herrschen würden. Der Krieg hatte zu tiefe Wunden hinterlassen. Gemeinsame Vergangenheit und alte Schwüre hin oder her.
Ich hätte mehr Scharfsicht von dir erwartet. Selbst wenn du siegen solltest: Glaubst du ernsthaft, der Krieg wäre urplötzlich vorbei? All die Verschwörungen, all die Komplotte, all die Opfer – einfach vergessen?
So steht es geschrieben.
So steht es geschrieben … Uriel machte sich nicht die Mühe, seinen angewiderten Gesichtsausdruck zu verbergen. Es sind Dinge passiert, die nie vergessen, nie verziehen werden. Du weißt, wovon ich spreche, Michael. Kennedy, Lincoln, Lord Darnley … wir haben gewusst, was wir mit diesen Attentaten anrichten. Und haben sie dennoch ausgeführt. Oder ausführen lassen.
Michael setzte ein unbeteiligtes Gesicht auf, als würde ihn all das nicht betreffen. Das ist bedeutungslos. Der Herbstbringer ist der Schlüssel, ganz gleich, was in irgendeiner dunklen Vergangenheit vorgefallen ist. Hat sich der Herbstbringer erst zu erkennen gegeben, wird derjenige die Welt beherrschen, der den Kopf der Verräterin in den Händen hält.
Hat dir das dein Orakel gesagt?
Michael reagierte nicht sofort darauf. Ein Fehler, wie er schon einen Augenblick später zerknirscht feststellte. Er hasste es, durchschaut zu werden. Auch all die Jahre im Exil hatten Uriels Fähigkeiten nicht einrosten lassen.
Mir scheint, du solltest die Aussagen dieser dahergelaufenen Wanderpriesterin sorgfältiger prüfen. Wenigstens über Nosophoros hat sie dich hoffentlich unterrichtet?
Nosophoros. Dieser Name bedeutete Unheil. Michael hätte nicht gedacht, ihn jemals wieder zu vernehmen. Noch unwahrscheinlicher war ihm nur die Möglichkeit erschienen, er könnte nicht der Erste sein, der von der Rückkehr dieses … Problems Wind bekam.
Diesmal ließ er sich nichts anmerken. Ich habe wichtigere
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