Herbstbringer (German Edition)
nach Hause geschleppt und war müde neben Sophie auf dem Sofa zusammengesunken. Während sie ihren Gedanken nachhing und den fallenden Blättern vor dem Fenster zusah, wurde ihr plötzlich etwas klar. Die ganze Zeit hatte sie versucht sich einzureden, an Elias nur historisch bedingtes Interesse zu haben. Aber insgeheim war ihr längst klargeworden, dass dieser Fremde eine starke Faszination auf sie ausübte. Sie dachte beunruhigend oft an ihn und an die Rolle, die er in ihrem früheren Leben gespielt hatte.
Das rasselnde Geräusch des Haustürschlüssels bot Emily einen willkommenen Fluchtweg aus ihren Gedanken. Ihre Eltern kamen nach Hause.
»Übrigens sitzt Jake auf der anderen Straßenseite«, bemerkte ihr Vater wenig später, während er Gemüse für das Abendessen putzte. »Seid ihr noch verabredet?«
»Ähm«, stammelte Emily. »Nein, eigentlich nicht …«
»Sie haben sich gestritten«, sagte Sophie, um ihr zu helfen. »Und sie will ihn gerade nicht sehen.«
»Aaah, verstehe.« Carter nickte wissend und widmete sich wieder seinen Tomaten. Dann überlegte er es sich anders und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Sag Bescheid, wenn ich ihn mit dem Küchenmesser verjagen soll, ja? Mit meinen Töchtern hat man sich nicht zu streiten.«
»Danke«, murmelte sie. Es kostete sie einige Kraft, bei diesen Worten nicht in Tränen auszubrechen.
Nachdem sie sich abends auf ihr Zimmer verkrümelt hatte, saß sie lange auf der Fensterbank und ließ sich den auffrischenden Wind um die Nase pusten. Jake hatte mittlerweile aufgegeben und war mit hängenden Schultern nach Hause gegangen. Es tat ihr weh, ihn gehen zu lassen.
Vereinzelte Regentropfen mischten sich unter die Blätter, die der Wind durch die unruhige Nacht trug. Die Wettervorhersage prophezeite für die nächsten Tage jene Art von Wetter, bei der man sich bevorzugt mit Büchern eindeckte und das Haus gar nicht erst verließ. Was unter anderen Umständen ein Anlass zur Freude für sie gewesen wäre, konnte ihr jetzt nicht die geringste Begeisterung entlocken. Sie war dabei, den Menschen zu vergraulen, den sie liebte, die Familie im Stich zu lassen, die ihr ein Zuhause gegeben hatte, und einem Vampir nach London zu folgen, von dem sie nichts wusste.
Aber es war der einzige Weg.
Levana …
Sie hielt inne. Für einen kurzen Augenblick hatte sie den Eindruck gehabt, ihren Namen – ihren richtigen Namen – aus dem Wispern des Windes herauszuhören.
Unmöglich. Sie drehte wohl langsam durch.
Angespannt horchte sie in die Nacht.
Lockend fuhr der Wind durch die Bäume des nahen Waldes. Die Äste flüsterten sich durch die Dunkelheit geheime Botschaften zu, die von dem raschelnd über den Boden streichenden Laub aufgegriffen und weitergegeben wurden. Von Worten oder gar ihrem Namen war nichts mehr zu hören. Sie musste sich getäuscht haben. Wie sollte es auch anders sein?
Ein letztes Mal spitzte sie die Ohren, konnte der nächtlichen Geräuschkulisse des wie ausgestorbenen Städtchens aber keine weitere Bedeutung abringen.
12
Wenn Menschen mehrere Jahre keinen Kontakt zueinander haben und es darauf anlegen, sich aus dem Weg zu gehen, gibt es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gute Gründe dafür. In dieser Hinsicht ähnelt die Welt der Vampire der der Menschen – wenn auch in anderen Dimensionen. Michael hatte Uriel das letzte Mal vor gut hundertsiebzig Jahren zu Gesicht bekommen. Und es war kein Tag zu wenig gewesen.
Er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit gewesen war, bis die anderen drei nach London zurückkehren würden. Dass ausgerechnet Uriel, Begründer jener Sippe, die den Herbstbringer zu verschulden hatte, um eine Unterredung bat, überraschte ihn. Seit dem Tag, an dem Uriels Familie wegen dem Verrat des Herbstbringers in die Verbannung geschickt worden war, hatte Michael fest damit gerechnet, dass sein einstiger Gefährte der Erniedrigung einer weiteren öffentlichen Begegnung aus dem Weg gehen würde. Die gemeinsamen Jahrtausende hatten in ihm die Überzeugung reifen lassen, die anderen drei zu kennen.
So konnte man sich täuschen.
Der Wagen näherte sich dem Treffpunkt. Michael war allein, wie es der Brauch dieser Treffen vorsah. Die Wahl des Treffpunktes war ebenso wenig Zufall. Stets waren es Orte, an denen sich die Zivilbevölkerung mit Sicherheitsbeamten oder Polizisten die Waage hielt. Keine Seite wollte ein noch so geringes Risiko eingehen.
»Sir?«
Der weiße Wagen war schon vor geraumer Zeit zum Stehen
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