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Herbstbringer (German Edition)

Herbstbringer (German Edition)

Titel: Herbstbringer (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Björn Springorum
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hätte man die Farbe aus einem Sonnenuntergang genommen. Die Kreuze, Engelsstatuen und verkrüppelten Bäume erhoben sich mahnend zum bewölkten Himmel, die Gräber waren von Laub bedeckt, das sich in ebenso zahlreichen Verfallstadien befand wie die Leichen unter Emilys Füßen.
    Sie erreichte eine Ecke, in der deutlich weniger Gräber, dafür umso mehr ausladende Bäume standen. Das Gefühl, das sie beim Lied des Straßenmusikers durchströmt hatte, wurde hier wieder stärker.
    Der Wind stimmte ein gedankenverlorenes Lied an. Blätter raschelten über Gräber, schwebten geradezu erwartungsvoll über den Weg und wurden sachte davongetragen.
    Dann sah Emily es.
    Zaghaft, wie ein scheues Reh, pirschte sie sich Schritt für Schritt an ein Grabmal heran, das im Schatten eines mächtigen Baumes lag. Sein dicker Stamm wuchs in einem Bogen in die Höhe, ausladende Äste reichten zu allen Seiten bis auf den Boden.
    Ein grob gehauener Steinquader, einem Altar nicht unähnlich, ragte schief aus der Erde empor. Darauf die liegende Statue eines Engels mit gebrochenen Flügeln. Der Engel lag mit dem Rücken zu Emily. Schwer atmend umrundete sie das Grab, Schritt für Schritt. Bis sie das Gesicht der Statue sehen konnte.
    Es war das Gesicht ihrer Mutter.
    Statt Trauer überkam Emily ein überwältigendes Gefühl von Ruhe und Friedlichkeit. Hier, inmitten der Überreste unzähliger Verstorbener, fühlte sie sich das erste Mal zu Hause.
    Gefasst setzte sie sich in das nasse Gras.
    Das Grabmal war verwittert. Risse durchzogen das Fundament, und Efeu hatte sich überall ausgebreitet. Laub bedeckte die Flügel und den Rücken des gefallenen Engels.
    Emily machte keine Anstalten, die Grabstätte zu säubern oder freizulegen. Sie fand es wunderschön so. Behutsam berührte sie die Seite des Steinquaders. Die hastige Abfolge urplötzlich aufzuckender Bilder ließ sie ihre Hand instinktiv wegziehen. Erschrocken starrte sie den Stein an. Für einen kurzen Augenblick hatte sie einen Blick auf etwas erhascht, ein gleißender Moment, von dem sie jetzt schon wusste, dass er sich für immer in ihr Gedächtnis einbrennen würde.
    Sie hatte durch die Augen einer anderen Person auf einen groben Holzsarg geblickt, der gerade in die Erde gelassen wurde.
    Emily beschlich eine üble Vorahnung. Was hatte sie gerade gesehen? Sie musste es herausfinden. Sie schloss die Augen und legte ihre Hand auf das Grab.

    … und blickte direkt in die ausdruckslosen Augen ihres Vaters. Neben ihm hatte sich die Stiefelleckergarde aufgereiht wie Orgelpfeifen, von der gedrungenen Form des Lüstlings Eustace über die hagere Sensenmanngestalt des hakennasigen Arthur waren alle vertreten. Ihr Vater erwiderte ihren Blick mit einem angedeuteten Nicken, dann konzentrierte er sich wieder auf die aktuellen Geschehnisse. Zwei Totengräber kletterten gerade aus der Grube und blickten ihn fragend an. Mit einem letzten Blick in ihre Richtung wandte er sich ihnen zu und gab den Befehl, das Grab zu schließen.
    Große Schaufeln gruben sich in die zu beiden Seiten des Loches aufgehäufte Erde. Mit einem dumpfen Platschen prasselte sie auf den Holzsarg. Für einen flüchtigen Moment glaubte sie, Worte auf dem Sargdeckel zu erkennen, dann wurden sie unter feuchtem Erdreich begraben.
    Die versammelte Gemeinde wohnte den Vorgängen emotions- und kommentarlos bei. Kein Schluchzen, keine Träne. Nur schwarze Kleidung. Doch dies hatte unter ihresgleichen nichts zu bedeuten. Die Geräuschkulisse bestand einzig aus dem feuchten Aufklatschen der Erde und der nahen Brandung.
    »Komm, wir haben hier nichts verloren«, sagte ihr Vater und nahm sie bei der Hand.
    Als wäre sie im Traum in ein tiefes Loch gestürzt, schreckte Emily in die Wirklichkeit zurück. Sie zitterte am ganzen Leib. Ob es von der Kälte kam, konnte sie unmöglich sagen. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen.
    Sie blickte sich um. War dieser Ort schon zuvor so düster gewesen? Langsam, aber sicher, fragte sie sich, ob dieser Ausflug nicht bis zum Tageslicht Zeit gehabt hätte. Was, wenn andere Vampire oder womöglich gar eines dieser grässlichen Viecher aus den Tunneln unter der Stadt in der Nähe waren?
    Angestrengt horchte sie in die Nacht. Hier und da raschelte es, aber wahrscheinlich waren es nur Mäuse oder Ratten. Ansonsten fühlte sie nichts, was auf andere ihrer Art hindeutete. Und doch war da etwas – eine Empfindung, die undefinierbar über ihren Eindrücken schwebte.
    Die Zeit gefror.
    »The night is darkening

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