Herbstbringer (German Edition)
round me, the wild winds coldly blow …«
Emily wagte es nicht, zu atmen oder sich umzuwenden. Die Stimme war ihr nicht fremd. Während sie noch fieberhaft überlegte, was sie tun sollte, spürte sie, wie sich jemand näherte. Jemand – oder etwas. Nach sekundenlanger Schockstarre, kurz bevor der Unbekannte sie erreichte, sprang sie in einer einzigen instinktgetriebenen Bewegung auf, schnellte herum und riss einen Arm in die Höhe, um sich gegen das zu verteidigen, was auch immer sie mit viktorianischer Poesie angreifen wollte. Ein Griff, hart wie Eisen, packte ihr Handgelenk, zog sie näher und erstickte ihre blitzschnelle Bewegung im Keim.
Dann blickte sie in die Augen von Elias.
»But a tyrant spell has bound me, and I cannot, cannot go«, vollendete er die Strophe mit einer Seelenruhe, als befände er sich gerade bei einer Lesung. Die Zeilen Emily Brontës brannten sich in ihren Gehörgang. Dabei ließ weder sein Arm ihr Handgelenk noch sein stechender Blick ihre Augen los. Sie konnte seinen Atem auf ihrer Wange spüren. Später versuchte sie sich einzureden, dass ihre Knie dabei einzig und allein aufgrund des Schocks zu Pudding geworden waren. Doch sie war ein lausiger Lügner. Sie konnte nicht mal sich selbst belügen.
Emily riss sich los und trat zwei Schritte zurück. »Wer sind die Engel?«, blaffte sie ihn in ihrem besten Befehlston an. Ohne zu wissen warum, fühlte sie plötzlich eine Wut in sich hochkochen, die Elias nicht unbedingt verdient zu spüren bekam, aber er war eben da. Außerdem hatte er kein Recht, sie hier zu stören. Hier, an ihrem Ort.
Er schaute bedeutungsvoll von ihr zu der Engelsstatue und wieder zu ihr. »Wenn du das meinst, was ich denke, ist das womöglich der schlechteste Einstieg in dieses Gespräch.«
Sie funkelte ihn an. »Dich anzuschleichen und mich zu Tode zu erschrecken ist deiner Meinung nach also besser?«
»Das wollte ich nicht. Ich dachte, du hättest mich sowieso gespürt. Sonst wärst du doch gar nicht hier.«
»Das habe ich auch«, zischte Emily. »Wie du siehst, habe ich gerade das Grab meiner Mutter gefunden, was erwartest du?«
»Du hast recht, bitte entschuldige. Ich hätte mir denken können, dass du mit deinen Gedanken woanders bist. Ich habe mich nur so gefreut, dass du tatsächlich hier bist.«
»Dann hättest du deine Freude doch etwas früher ankündigen können, anstatt mich so zu überrumpeln«, grummelte sie, hatte aber die Schärfe aus ihrer Stimme genommen und blickte verlegen zu Boden.
Für Elias war die Sache damit geregelt. Er blickte zum Grab. »Es ist schön, nicht?«
Emily sagte nichts. Sie mochte durch sein Auftauchen zwar einen Anflug von Erleichterung verspüren; dass er über das Grab ihrer Mutter sprechen wollte, die erste und einzige Verbindung, die sie zu ihr gefunden hatte, war ihr trotzdem eindeutig zu privat.
»Was hast du da gerade eben zitiert?«, erwiderte sie, um die Frage zu übergehen. »Ich kenne dieses Gedicht. Emily Brontë, nicht?«
»Ja, die erste Strophe.« Er trat auf das Grab ihrer Mutter zu und wischte das Laub von der Steinplatte. Noch bevor Emily wieder zornig wurde, bat er sie zu sich heran. »Hier.« Er deutete auf den freigelegten Stein. »Sieh dir das an.«
Zögerlich beugte sie sich über das Grab. Sie wollte es in Elias’ Gegenwart um jeden Preis vermeiden, den Stein zu berühren. Das ging ihn nun wirklich nichts an. Sein aufmerksamer Seitenblick bei dieser Aktion entging ihr.
»Aber – das ist ja dasselbe Gedicht«, sagte sie perplex.
»Ganz recht«, sagte er leise und fixierte sie wieder mit einem dieser Blicke, die Emily kurzzeitig vergessen ließen, wo oben und wo unten war. Durften Augenbrauen überhaupt so verdammt vorteilhaft auf ein Gesicht wirken? Und überhaupt: Hatte er bei ihrem ersten Treffen nicht ein wenig abgerissen gewirkt? Heute sah er ordentlicher aus, anziehender. Sie entsann sich, wo sie sich befand, und schob die Gedanken beiseite.
Hastig trat sie wieder einen Schritt zurück. Elias gab vor, nichts bemerkt zu haben, doch Emily entging der Anflug eines kleinen Schmunzelns nicht. Zu ihrer Bestürzung machte es sie nicht wütend, es beunruhigte sie nur. Wie als Reaktion auf ihre Verwirrung fuhr der Wind merklich stärker durch das morsche Geäst und ließ die trockenen Blätter über die umliegenden Gräber rascheln.
»Ah«, machte Elias. Er schloss die Augen und lauschte dem Raunen. »Der Herbstwind, er hat zu dir gesprochen.« Sie sagte nichts darauf. Es hatte sowieso nach
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