Herbstfraß
klingt sehr sicher. Trotzdem brauche ich wenigstens einen kleinen Hinweis und nicht nur reines Bauchgefühl.
„Schon klar, Tweety. Und wo? Er wird Ingo kaum an einem Baum gebunden haben oder in einem Jägerstand verstecken. Für Aufenthalte im Freien ist es bereits zu kalt. Gibt es da vielleicht eine Hütte?“ Ich schalte Google Street View, das mir leider ausschließlich Wald anzeigt.
„Halt! Ist das dort nicht der Kuhtrift?“, fragt Bo mit gerunzelter Stirn.
„Hm“, brumme ich eine Antwort. „Laut den Aufzeichnungen hat er da immer geparkt. Die einzige Möglichkeit, wenn er dort in die Haake will. Das Handy hat er offenbar für die paar Stunden im Wagen gelassen.“ Den Blick auf Bo gerichtet trinke ich den letzten Rest Milch. Wenigstens hat er nicht mit Honig gespart. Bo überlegt fieberhaft und ich drücke eine weitere Halspastille aus der Packung.
„Was sagt mir der Kuhtrift?“, murmelt er leise vor sich hin und kneift sich mit Daumen und Zeigefinger in den Nasenrücken, als würde ihm das beim Denken helfen. Und es hilft tatsächlich, denn im nächsten Moment ruft er: „Der Bunker!“
„Bunker?“
„Ja, natürlich. Es gibt dort einen alten Bunker. Da wurde kurz vor Kriegsbeginn Munition für Heer und Luftwaffe gelagert. Heute ist der Bunker nicht mehr zugänglich, weil ihn die Stadtverwaltung vor ein paar Jahren dichtgemacht hat.“ Wie ein Kastenteufel springt Bo auf.
„Das ist das ideale Versteck, Dot.“
Dem muss ich wohl oder übel zustimmen.
„Sieh nach, wo sich der Nolte gerade aufhält. Ich möchte ihm ungern dort in die Arme laufen. In der Zwischenzeit will ich noch etwas holen.“
Während ich Bos Befehl Folge leiste, rennt der in unsere Wohnung hinauf. Warum hat er nicht gleich das Geschirr mitgenommen? Manchmal finde ich es wirklich erstaunlich, dass Bo zwar in der Lage ist, ein T-Shirt genau auf DIN A4-Größe zu falten, ansonsten um Ordnung und insbesondere um Aufräumarbeiten einen Riesenbogen schlägt. Atemlos kommt Bo zurück.
„Und?“
„Das Signal kommt aktuell aus seinem Büro“, antworte ich und schalte den Rechner aus. Keine Sekunde zu früh, denn Bo wirft mir meine Jacke zu.
„Komm schon, Dot. Wir holen uns Ingo.“
Jetzt hat es auch mich gepackt. Im Laufen ziehe ich mir die Jacke über und greife gerade noch meinen kuschligen Schal. Die Bürotür werfe ich nur hinter mir zu. Wenn ich mich unnötig mit Abschließen aufhalte, dann könnte es passieren, dass Bo in seinem Jagdtrieb ohne mich losfährt.
14:47 Uhr
„Verdammter Mist.“ Bo schlägt mit der flachen Hand auf das Lenkrad. Wir stehen seit einer geschlagenen Stunde auf der A1 im Stau, weil Baustellen und Raser keine gute Kombination bilden. Ein Abschleppwagen tastet sich Millimeter für Millimeter an dem polierten Lack meines Wagens entlang und ich kneife die Augen zusammen, um das sicherlich gleich auftretende Kreischen von Metall auf Metall besser genießen zu können. Wider Erwarten bleibt es aus. Bo steht beinahe in der Baugrube, um den Abschleppdienst durchzulassen. Es wäre einfacher gewesen, wenn unser Vordermann ein kleines Stückchen vorgefahren wäre. Offenbar hat der Angst, seinen rostenden Ford Fiesta in dem Baggerloch zu versenken.
„Wenn wir es schon mal eilig haben“, sagt mein Mann ärgerlich. Der Abschleppwagen ist an uns vorbei und Bo bemüht sich, meinen BMW wieder in Fahrtrichtung zu positionieren, ohne die rot-weiß gestreiften Barken zu touchieren.
„Warum entführt Nolte seinen Stiefsohn?“ Diese Frage brennt mir eigentlich seit geraumer Zeit unter den Nägeln.
„Das kannst du ihn persönlich fragen, sobald wir Ingo haben.“
„Ehrlich, Bo, ich werde daraus nicht schlau. Seine Besuche bei Streng und Züchtig deuten auf eine sexuelle Motivation hin. Allerdings ist Ingo sein Stiefsohn. “
Bo wirft mir einen vielsagenden Seitenblick zu.
„Na ja, für mein persönliches Empfinden ist das bereits Inzucht. Selbst wenn Ingo nicht sein leiblicher Sohn ist.“
„Ich möchte mich gar nicht erst in ein derartig krankes Hirn hineindenken“, sagt Bo und reckt den Hals.
„Endlich.“ Er stöhnt erleichtert auf. „Sie laden diesen Idioten auf. Danach wird es bestimmt bald weiter gehen.“
Zu seinem Getrommel auf dem Lenkrad, zücke ich meine Erkältungskapseln und schlucke davon drei weitere. Unwirsch entreißt mir Bo die Packung.
„Du denkst wohl, je mehr du einnimmst desto besser. Dot, das sind keine Bonbons.“ Bo schiebt die Tabletten in die Ablage an
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