Herbstfrost
Sachverständigen hatte eine Fahrlässigkeit des Maschinisten zu der
Katastrophe geführt. Laut Zeugenaussagen war der Mann betrunken gewesen und
hatte höchstwahrscheinlich die Überhitzung des Kessels nicht bemerkt. Da er
ebenso ertrunken war, konnte die Stegreifexpertise nie durch Fakten erhärtet
werden. Das Wrack ruhte noch immer am Grund des Traunsees, und zwar an dessen
tiefster Stelle. Eine Bergung hätte Millionen gekostet. Klagen von
Hinterbliebenen waren abgewiesen worden.
Schremmer hatte sich Kopien der Protokolle besorgt und war jedem
einzelnen Hinweis nachgegangen. In einem ausrangierten Wohnwagen am Westufer
des Traunsees spürte er einen Obdachlosen auf, der den Untergang des Schiffs
zufällig mitverfolgt hatte. Zur fraglichen Zeit hatte er nicht nur einen,
sondern gleich drei Taucher gesehen. Sie waren eine Stunde vor der Katastrophe
in einem Ruderboot auf den See hinausgefahren. Einige Zeit nach der
ohrenbetäubenden Explosion hatte das Boot wieder aufs Ufer zugehalten. Die
Männer in den Neoprenanzügen hatten nicht einen Schiffbrüchigen an Bord, obwohl
die Hilfeschreie minutenlang über den See gehallt waren, ehe sie schließlich
verstummten. Als die drei am Ufer anlegten, hätten sie gelacht, berichtete der
Penner entsetzt. Sie hätten gelacht, während draußen auf dem See Menschen
ertranken.
Nein, er sei nicht zur Gendarmerie gegangen. Man hätte ihm, einem
stadtbekannten Säufer, ohnehin nicht geglaubt. Also habe er sich den Weg
erspart.
Zudem hatten Lebensmittelspenden an zwei Pflegeheime im
oberösterreichischen Innviertel ein ähnliches Massensterben zur Folge gehabt
wie das Schiffsunglück auf dem Traunsee. In dem Fall war eine
Salmonelleninfektion für neun betagte Heiminsassen letal verlaufen. Die
Darmbakterien waren durch Tiefkühlgeflügel übertragen worden, doch Heimleitung
und Kommunalpolitiker wollten keinen Wirbel um Lebensmittelspenden machen, deren
Ablaufdatum überschritten gewesen war. Das Unglücksprotokoll wurde also diskret
zu den Akten gelegt.
In einem weiteren Fall, gar nicht so lange her, hatte eine
klassische Pilzvergiftung zum Tod von zwölf Heiminsassen geführt. Ein
pensionierter Eisenbahner hatte einen Korb mit Steinpilzen in der Küche des
Methusalem-Heims unweit der Stadt Braunau abgegeben. Einigen Pilzen fehlten
anscheinend die Hüte, was aber bei der großen Menge nicht sonderlich
aufgefallen war. Die lange Latenzzeit bei Knollenblätterpilzvergiftungen tat
ein Übriges, und als die ersten Symptome, Durchfall, Erbrechen und starke
Dehydration, auftraten, wurden sie nicht mit der Pilzschenkung in Zusammenhang
gebracht. Der Anstaltsarzt diagnostizierte Darmgrippe. Am dritten Tag trat die
trügerische kurze Phase der Besserung ein, die man den verabreichten
Medikamenten zuschrieb, dann aber zeigte sich bei zwölf Betroffenen die
typische Gelbsucht. Eine Rettung war nicht mehr möglich. Am fünften Tag starben
alle Behandelten an Leberversagen. Erst im Nachhinein wurde Pilzvergiftung
durch Fahrlässigkeit als Ursache festgestellt. Der verantwortliche Küchenchef
kam trotz der vielen Todesfälle mit einer bedingten Strafe davon, und die
zuständige Kriminalabteilung des LGK Oberösterreich sah keinen Grund für weitere Ermittlungen. An wen hätte man sich
auch wenden sollen? An das geistig behinderte Küchenmädchen, das die Pilze
geputzt und geschnitten hatte? Oder an den Rentner, der schon jahrelang für das
Heim Pilze sammelte und nach dieser Tragödie psychologische Betreuung
benötigte?
Schremmer hatte in beiden Fällen die Herkunft der todbringenden
Lebensmittel bis zu den tatsächlichen Spendern zurückverfolgt. Es war eine
mühselige, zeitaufwendige Arbeit gewesen, aber seine Hartnäckigkeit hatte sich
gelohnt. Die Tiefkühlkostfirma, von der die Hühnchen-Spenden stammten, hatte in
eben jenem Sommer drei Biologiestudenten als Urlaubsersatzkräfte eingestellt,
deren Identität Schremmer eruieren konnte. Im Dunkeln blieb jedoch, ob sie die
Hühnchen präpariert hatten, und die Frage, ob im Knollenblätterpilzfall
dieselben drei Burschen am Werk gewesen waren. Fest stand, dass drei junge
Leute lockeren Kontakt zu jenem Pilzsammler gepflegt und ihn wiederholt auf ein
Bier eingeladen hatten. Einmal auch, als er gerade mit einem Korb voll Pilze
aus dem Wald gekommen war. Der Pensionist kannte nur die Vornamen der Burschen,
die jedoch nicht mit jenen der Ferienarbeiter übereinstimmten.
Ähnlich bestialisch wie in der Villa Cermak waren in einer
namentlich
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