Herbstfrost
genannten geriatrischen Klinik im Wienerwald zwei
Krankenpflegerinnen und ein Arzt gegen Patienten vorgegangen. Und das
jahrelang! Sie hatten die ihnen Anvertrauten so raffiniert und unauffällig zu
Tode therapiert, dass sie keinen Verdacht erregt hatten. Bis Schremmer
dahintergekommen war.
Mit einer Charme-Offensive hatte der Journalist einer Pflegerin
einen vagen Tipp entlockt. Es hatte ihn nicht nur mehrere Dates gekostet, bis
die Frau sechs Fälle von angewandter Euthanasie bestätigt hatte. Unter vier
Augen, wohlgemerkt. Unter keinen Umständen wäre die Zeugin bereit gewesen, ihre
Aussagen an offizieller Stelle zu wiederholen. Dazu war die Angst zu
übermächtig.
Die Haushaltsunfälle wirkten ebenso unverdächtig, wie die Liste lang
war. Hinter den Namen standen die offiziellen Todesursachen: etwa
Gasvergiftung, Gasexplosion, tödlicher Stromstoß beim Hantieren an elektrischen
Leitungen, unter Alkoholeinfluss im Bad ertrunken, ausgerutscht und das Genick
gebrochen oder auf dem Nachhauseweg erfroren. Beim Fensterputzen
beziehungsweise Balkonstreichen abgestürzt, mit brennender Zigarette
eingeschlafen und an Rauchgasen erstickt, Tetanus infolge einer nicht
beachteten Verletzung, Kreislaufzusammenbruch infolge Insektengiftallergie und
so weiter und so fort.
Ebenso nüchtern hatte Schremmer Auto-, Freizeit- und Urlaubsunfälle
kommentiert. Er zeichnete penibel nach, wie die Unfälle vermutlich
herbeigeführt worden waren. Eine häufig angewandte Methode schien zu sein,
einem Pensionisten vor der Heimfahrt so viel Alkohol aufzunötigen, dass der
Promillepegel später bei der Obduktion festgestellt werden konnte.
Die Handschrift der Täter war im Nachhinein nicht leicht zu lesen,
denn an drei ortsfremde junge Leute im Umfeld der Opfer konnte sich nur selten
jemand erinnern, und manche Zeugenaussagen waren anzweifelbar. Sie waren ganz
offensichtlich durch Suggestivfragen provoziert worden. Der Verdacht, die
Beteiligung von Dreiergruppen sei für Schremmer zur fixen Idee geworden, war
nicht allzu weit hergeholt. Seine Rechnung schien zu lauten: Unfalltod plus
drei Unbekannte in der näheren Umgebung ist gleich Sökos-Mord.
Trotzdem beeindruckte Jacobi die umfangreiche Auflistung der
getürkten Unfälle, denn den überwiegenden Teil hatte der Journalist sauber
recherchiert. Mit anderen Worten: Die Indizien für die getarnten Meuchelmorde
waren, wenn schon nicht erdrückend, so doch schlüssig.
Beim Aufspüren von vorgetäuschten Selbstmorden war Schremmer nicht
weniger erfolgreich gewesen. Etwaigem Misstrauen von Angehörigen hatte man
hierbei durch exzellent gefälschte Abschiedsbriefe vorgebeugt.
Jacobi überflog einige der in Telegrammstil verfassten Schreiben:
»Ich sehe keinen Sinn mehr darin, mein Leben in trostloser Einsamkeit zu Ende
zu leben.« Oder: »Wenn man sein Leben mit niemandem mehr teilen kann, wird es
sinnlos.« Oder: »Fünfzig Jahre Arbeit für ein Leben auf dem Abstellgleis? Nein,
danke!« und so weiter.
Die Brieftexte – jeweils ein Satz und die Unterschrift – nahmen im
Dossier eine ganze Seite ein, doch nicht ein Angehöriger der vermeintlichen
Selbstmörder hatte Zweifel an der Echtheit der letzten Zeilen geäußert.
Schremmer verfolgte die Spur der Abschiedsbriefe und wurde in einem Atelier
fündig, das einem Bilder- und Urkundenfälscher gehörte. Doch der Mann kannte
seine Auftraggeber nicht, wusste nicht einmal, dass ein Großteil der Aufträge
vom selben Absender stammte. Man schickte ihm stets Schriftproben und Scheck
per Post, und er hinterlegte die verlangte Arbeit in einem Post- oder
Bahnhofsschließfach. Natürlich ahnte er den Zweck der Briefe, glaubte,
Erbberechtigte wollten den beschleunigten Abgang der Erblasser mit diesem Kniff
kaschieren. Der moralische Aspekt seines Tuns schien ihn nicht im Geringsten zu
stören. »Seine Haltung gleicht der eines Waffenhändlers, der zwar Waffen
verkauft, aber niemanden eigenhändig umbringt«, hatte Schremmer angemerkt.
Es waren Kinder gewesen, die ihn vor etlichen Monaten auf die
getürkten Selbstmorde aufmerksam gemacht hatten. Ein siebzigjähriger Pensionist
und Witwer in einem Lungauer Dorf hatte sich erhängt. Nicht ungewöhnlich in
Zeiten wie diesen, aber die Kinder, die ihn beinah jeden Tag in seinem herrlich
verwilderten Garten besucht hatten, äußerten Zweifel am Selbstmord von Opa
Callaballa. Der hatte sich doch längst damit abgefunden, seine Söhne und
Töchter nur dann zu sehen, wenn sie Geld brauchten. Trotzdem war
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