Herbstfrost
noch fürchteten.
»Jacobi, Sie haben drei offene Fälle auf dem Schreibtisch liegen.
Den Kindesmissbrauch in der Zeller Bankiersfamilie, den Totschlag respektive
Mord am Prügelgatten von Altenmarkt und schließlich den Tennengauer
Pferdeschlitzer, der höchstwahrscheinlich auch den Senner auf der Postalm auf
dem Gewissen hat. Und bei dieser Arbeitsauslastung fällt Ihnen nichts anderes
ein, als einer Schimäre nachzujagen?«
Waschhüttl trat den geordneten Rückzug an. Er kannte die
Dickköpfigkeit seines Untergebenen – und seine Furchtlosigkeit. Schon einmal
hatte Jacobi es auf eine Suspendierung ankommen lassen und eine Weisung
ignoriert. Der Erfolg hatte ihm im Nachhinein recht gegeben, und er,
Waschhüttl, hatte ihn unter massivem medialem Druck rehabilitieren müssen. Seit
diesem Vorfall verfügte Jacobi über beste Kontakte zu namhaften Journalisten.
»Natürlich hätten wir jede Menge zu tun, Herr Oberst. Aber die
genannten Delikte sind Peanuts im Vergleich zum Fall Cermak, das wissen Sie so
gut wie ich. Letzterer hat unbedingte Priorität. Wir können es uns nicht
leisten, ihn zurückzustellen. Schon allein nicht wegen der Zeitbombe Schremmer!
Sie werden meinen Bericht erhalten, dem selbstverständlich auch das Dossier
beiliegt, das Schremmer uns überlassen hat.«
Jacobi stellte sich Waschhüttl beim Lesen des Dossiers vor und
empfand dabei grimmige Genugtuung. Nach der Lektüre würde sich der Feigling in
einem apokalyptischen Alptraum wähnen. Und zwar nicht etwa, weil ihm der
Gedanke an das Schicksal der Ermordeten so zusetzen würde, nein, weil ihn die
Angst vor den Schlagzeilen nicht mehr schlafen ließe: »Organisierter Massenmord
an Senioren! – Gerontozid! – Gendarmerie jahrelang ahnungslos!«.
»Was Priorität hat, Jacobi, das erfahren Sie vorläufig noch von
mir«, sagte Waschhüttl seidenweich. »Aber gut. Sie bleiben weiter dran, halten
aber Hofrat Kandutsch und mich auf dem Laufenden. Und zwar ohne die
Verzögerungen, die bei Ihnen an der Tagesordnung sind. Ich will über jeden
Ihrer Schritte informiert sein. Haben wir uns verstanden?«
»Haben wir. Liegt sonst noch was an?«
»Nein, das war alles.« Waschhüttl vertiefte sich in eine Akte, als
hätte der missliebige Untergebene den Raum bereits verlassen.
***
Jacobi gab sich keinen Illusionen hin. Natürlich hatte
Waschhüttl Schiss. War an der Sache was dran und hatte er nicht rechtzeitig die
nötigen Maßnahmen ergriffen, konnte das unterm Strich einen heftigen
Karriereknick für ihn bedeuten. Es war anzunehmen, dass er nach der Lektüre des
Dossiers umso nachdrücklicher darauf drängen würde, die Akte Sökos an die Stapo
weiterzureichen.
Aber nein! Plötzlich wusste Jacobi, was sein Widersacher vorhatte:
Schließlich durfte es ja gar keinen Fall Sökos geben! Mit diesem Vorschlag
würde sich Waschhüttl ans Ministerium wenden, und es war nicht ausgeschlossen,
dass man in einem ersten Reflex versuchen würde, die unappetitliche
Angelegenheit aus Staatsräson zu unterdrücken.
Schremmer konnte man Geld anbieten. Den Fehler, ihm zu drohen, würde
man nicht begehen. In Behördenkreisen war bekannt, dass der Journalist auf
Druck allergisch reagierte. Um seinen drohenden Karriereknick in einen
fulminanten Karrieresprung umzuwandeln, würde Waschhüttl zu diplomatischer
Hochform auflaufen. Und wenn man Schremmer im Sack hatte, dann hatten Stapo und
Geheimdienste freie Bahn. Man würde die Sökos in einer Blitzaktion zerschlagen,
ihre Killer peu à peu der Justiz übergeben und sie dann einzeln in
Hochsicherheitstrakten verschwinden lassen. Alles ganz leise.
Jacobi spürte Galle aufsteigen. Zurück im Büro bestellte er Weider
und Kotek zu sich.
»Lass mich raten«, sagte seine Freundin, »Waschhüttl hat dich von
den Sökos abgezogen und den Fall endgültig der Stapo übergeben?«
»Nein, hat er nicht. Noch nicht! Aber es kann sich nur noch um Tage
handeln. Sollte es wirklich so weit kommen, werde ich allein weiterarbeiten.«
»Vielleicht siehst du ja auch zu schwarz, Oskar. Waschhüttl hat doch
eine Heidenangst vor den Medien. Er wird es nicht darauf ankommen lassen,
öffentlich als Vertuscher in der Luft zerrissen zu werden. Schließlich ist
Kandutsch auch noch da.«
»Der wird Waschhüttl letztlich nachgeben.«
»Warum sollte er?«
»Würdest du dich vielleicht sechs Monate vor deiner Pensionierung
mit einem Minister anlegen?«
»Du … du meinst …?«
»Ja, das meine ich. Nach der Lektüre des Dossiers wird
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