Herbsttagebuch: Roman (German Edition)
verließ am Abend als Letzte Sophies Salon. Den ganzen Nachmittag
über hatte ich allein mit Wendelin geplaudert. Erst hinterher fiel mir auf, wie
unschicklich mein Verhalten gewesen war. Doch scheinbar hatte niemand daran Anstoß
genommen, waren alle Anwesenden selbst in anregende Gespräche vertieft. Als Sophie
die anderen Gäste hinausbegleitete, blieb ich für einen Moment allein mit Wendelin.
Wir plauderten
nicht mehr, sondern sahen uns an. Es war, als bliebe für einen Augenblick die Welt
stehen. Er fasste meine Hand und kam ein wenig näher. Ich wollte protestieren, doch
ich konnte es nicht. Stattdessen ging auch ich einen Schritt auf ihn zu. Und schon
berührten sich nicht mehr nur unsere Hände. Auch unsere Körper taten es. Noch nie
war ich einem Mann so nahe gewesen. Und dann küssten wir uns. Nur einen winzigen
Moment lang fanden unsere Lippen zueinander. Dann riss ich mich los und floh.
Während
Sophie mir in den Mantel half, flüsterte sie mir ins Ohr: »Ich habe gesehen, was
ihr getan habt.«
»Sophie,
du wirst doch nicht …« Ich zitterte am ganzen Leibe.
»Keine Angst«,
sagte sie lachend. »Ich werde nichts sagen, denn ich habe es ja so geplant. Seit
ich Wendelin zum ersten Mal gesehen habe, weiß ich, dass er der richtige Mann für
dich ist.«
Erst in
der Kutsche wurde mir der Sinn ihrer Worte bewusst. Und ich wurde furchtbar böse
auf sie. Meine Freundin hatte diesen Kuss geplant? Und Wendelin? Hatte er diese
Sache mit ihr zusammen ausgeheckt? Vielleicht haben sie sogar zusammengesessen und
sich ins Fäustchen über mich gelacht. Und ich bin auf sie hereingefallen. Ich stürzte
vom Himmel in die Hölle. Und mit einem Mal sah ich, was ich wirklich war. Ein kleines
Boot im großen Ozean, den Wellen führerlos ausgeliefert. Mutter, Vater, Friedrich,
Änni, Sophie und Wendelin. Allesamt taten sie mit mir, was sie wollten.
Denn sie
hatten, was mir fehlte: Einen Plan, wie mein Leben aussehen soll, und den Willen,
es genauso geschehen zu lassen.
Cool! Jetzt kommt wieder der Naturforscher
ins Spiel. Ich hätte es sehr bedauert, wenn der smarte Wendelin ganz von der Bildfläche
verschwunden wäre.
Wieder empfinde
ich ganz stark, was ich von Anfang an gedacht habe: Wendelins Gefühle für Augusta
sind echt!
Vielleicht
so, wie Leos Gefühle für mich?
Ist das
nervig! Meine blöden Grübeleien kleben in einer Endlosschleife fest, wie Kaugummi
an der Schuhsohle.
Und da ist – peng – plötzlich ein ganz neuer Gedanke. Ich
kriege auf einmal rasendes Herzklopfen. Augustas Einträge haben mich zuerst abgelenkt
von meinem eigenen Dilemma, doch dann ohne Umweg wieder dahin zurückgeführt. Plötzlich
begreife ich, dass ich ganz genauso bin – ein beknacktes, herrenloses Boot ohne
Ruder, für das andere die Pläne machen. 100 Jahre später, nachdem Augusta dem Tagebuch
ihre Sorgen anvertraut hat, in einer Zeit, in der Frauenrechte und weibliche Selbstbestimmung
keine Fremdwörter mehr sind, verhalte ich mich kein bisschen klüger als sie.
Tina schleppt
mich in eine Kneipe. Da lasse ich mich von völlig fremden Typen besoffen machen
und von Tina küssen, obwohl ich gar nicht auf Frauen stehe. Nur einen Tag später
küsst mich Leo, nachdem er mir Alkohol aufgeschwatzt hat, den ich gar nicht wollte.
Meine Intimfeindin Marlene spaziert derweil mit meinem Freund über den Potsdamer
Platz. Dann verschwinden sie einfach und sind wie vom Erdboden verschluckt, und
ich telefoniere mir sinnlos die Finger wund.
Und mein
neuer Job? Wollte ich den wirklich?
Ich weiß
gar nichts mehr. Nur dass scheinbar jeder mit mir macht, was er will, und ich kein
einziges Mal aufstehe und sage: ›Leute, mir reicht’s jetzt mit euch.‹
Und genau
das muss sich ändern. Ich muss wieder selbst wissen, was ich will. Ich muss Ja sagen,
wenn ich Ja meine. Und mit einem Nein muss ich es genauso handhaben. Das kann doch
nicht so schwer sein. Andere schaffen das doch auch. Und die sind viel entspannter
als ich.
Mir laufen
Tränen über die Wangen. Ich werfe mich auf mein Kissen und gebe mich meiner Verzweiflung
hin.
Den Rest
der Nacht verbringe ich abwechselnd grübelnd oder wild träumend: Basti ist auf einmal
Friedrich und schenkt mir einen Verlobungsring. In Wirklichkeit ist er allerdings
mit Marlene zusammen und die beiden treiben es laufend bei uns in der Werkstatt,
während ich zugucken muss und Tina mich küssen will.
Am nächsten Morgen sitze ich völlig
geschafft und ganz grau im Gesicht am Küchentisch und
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