Herbstvergessene
geöffnetem Mund, ihr Gesicht ganz nah vor meinem. In ihren Augen flackerte es, als sie wie beiläufig fragte: »Von welchen anderen sprichst du?«
Ich war schon dabei, ihr zu antworten, stockte dann jedoch wieder. Sie sah so gefasst aus. Wie konnte sie mit einer derartigen Leichtigkeit darüber sprechen? Oder verstellte sie sich nur, gingihr das Ganze näher, als sie zugab? Vorsichtig legte ich Paulchen aufs Bett und rieb mir den schmerzenden Arm.
»In meiner ersten Nacht hier in Hohehorst … habe ich ihn gesehen, im Treppenhaus, mit einer Schwester. Er hat sie geküsst, sie haben sich geküsst und … berührt.«
»Ach, welche Schwester war’s denn?«
»Ich weiß es nicht, ich habe sie nicht erkannt. Er stand vor ihr, verdeckte sie.«
Hanna schüttelte stumm den Kopf. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht verriet nicht, was sie dachte oder fühlte. Und während ich mich im Stillen über ihre Gefasstheit wunderte, sagte sie unvermittelt und so leise, dass ich sie kaum verstand: »Ich wusste, dass er lügt. Ich wusste, dass er auch andere hat. Und trotzdem wollte ich ihm glauben.«
»Wie meinst du das? Was wolltest du glauben?«
»Ich …«, begann sie, verstummte aber abrupt und holte tief Luft, wobei ihr Atem von einem hörbaren Zittern begleitet wurde. Plötzlich vergrub sie ihr Gesicht in den Händen. »Er hat mir versprochen … wenn der Krieg zu Ende ist … werden wir heiraten.«
»Er ist doch schon verheiratet.«
»Unglücklich«, flüsterte sie, »er ist mit einer Hexe verheiratet.«
»Oh, Hanna, das mag ja sein. Aber dann passen sie doch gut zusammen, denn er ist ein Hexer.«
Beim Abendessen kauten wir schweigend unsere Stullen. Hanna starrte grimmig vor sich hin. Ich hatte den Eindruck, dass ihre Verstörtheit einer bitteren Wut gewichen war. Wir saßen zu zweit an einem Tisch am Fenster und mein Blick verlor sich in meinem eigenen Spiegelbild und der Dunkelheit dahinter. Wie viele Tage würde ich hier noch sitzen, eingesponnen in einen Kokon von Behaglichkeit und Sicherheit. Sartorius weiß Bescheid, dachte ich, er weiß Bescheid und wird auch alles beweisen können, und wenn er es nicht kann, so wird er dafür sorgen, dass sich Zeugen finden, die alles bestätigen. Ich schob meinen Teller von mir, auf dem das halb gegessene Brot lag. Plötzlich erschien Sartorius in der Tür. Ererblickte uns und kam auf unseren Tisch zu, lächelte, ganz liebenswerter Onkel und väterlicher Arzt. Zwischen Hannas Augenbrauen erschien eine tiefe Falte, sie nahm den letzten Schluck ihres Hagebuttentees und stellte die Tasse klirrend auf den Teller.
»Guten Abend, die Damen!«, sagte er gut gelaunt.
»Oh, Dr. Sartorius.« Hannas Züge entspannten sich, auf ihrem Gesicht schien die Sonne aufzugehen. »Auch Ihnen einen guten Abend«, flötete sie.
Als ich seinen Gruß nicht erwiderte, nicht erwidern konnte, sagte er an mich gewandt: »Eine so charmante junge Dame und so schweigsam heute Abend?«
Ich hätte ihm sein Lächeln am liebsten vom Gesicht gerissen.
Da hörte ich Hanna sagen, und ihre Stimme klang auf einmal überlaut und seltsam klar: »Wie geht es Ihrer lieben Frau Gemahlin und den durchlauchten Schwiegereltern, sie sind alle wohlauf, wie ich hoffe?« Ein eisernes Lächeln lag auf Hannas Gesicht, während seines langsam nach unten sackte.
Als ich erwachte, war er fort. Dunkel erinnerte ich mich an den Schimmer seiner Haut im Kerzenlicht, der jedoch sofort von einem anderen Bild verdrängt wurde: von mir selbst, wie ich, wimmernd und zusammengekauert, diesem übermächtigen Drang ausgeliefert war, dieser Flut von Erbrochenem, die unaufhörlich aus mir herausquoll. Und schließlich legte sich die Scham heiß und brennend auf mein Gesicht. Ich drehte den Kopf und ein scharfer Schmerz durchfuhr meinen Schädel, irgendwo in meinem Hinterkopf, und verebbte in einem dumpfen Pochen. Ich weiß nicht mehr, wie lange ich so liegen blieb, absolut reglos, um dem Schmerz nur ja keine zweite Chance zu geben. Doch irgendwann wurde der Drang nach kaltem, klarem Wasser übermächtig und ich schälte mich aus den Decken, mühsam und unendlich langsam, wie die Parodie eines Menschen, der einen Kater hat.
Ich schlich in die Küche, halb hoffend, halb fürchtend,
ihn
anzutreffen, doch die Räume lagen leer und gleichgültig da. Enttäuscht und erleichtert zugleich öffnete ich den Schrank. Mineralwasser hatte ich keines da, also füllte ich mir Leitungswasser in einen Krug und schenkte mir zusätzlich
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